Holundermond
würde sich den Rest auch noch holen.
Flavio lag falsch. Es stimmte zwar, was er über den Grabstein gesagt hatte, aber er, Holzer, konnte die Geschichte korrigieren. Der schwarze Mönch hatte ihm ewiges Leben versprochen. Er musste sein Versprechen halten. Er würde ihm ein neues Opfer bringen. Er musste sich beeilen. Die Kinder wussten einfach zu viel.
Holzer zog ein Stück Stoff unter dem losen Brett hervor. Eine Kutte aus heller Wolle, wie die Kartäuser sie trugen. Er hatte jetzt keine Zeit, sich umzuziehen, es musste auch so gehen. Er streifte die weiße Kutte einfach über Hemd und Hose und drehte sich zu Flavio um.
»Los, steh auf!« Als Flavio sich nicht sofort bewegte, packte er ihn an den Haaren und zog ihn auf die Füße. »Ich gehe zurück in meine Zeit und du wirst mich begleiten.« Er lachte, als er in das entsetzte Gesicht des Jungen schaute. »Dann werden wir ja sehen, wer von uns beiden als Bruder Stephanus endet.«
30
Nele hatte nur einen Gedanken. Sie mussten zu Giovanni. Allein würden sie nie mit Holzer fertig werden. Sie brauchten Hilfe, und zwar schnell. Sie rannte hinter Johanna den Gang hinunter in Richtung der Seitentür, die ins Innere der Kirche führte. Dankbar dafür, dass Johanna die Führung übernommen hatte, warf Nele einen Blick über die Schulter nach hinten. Von Flavio fehlte jede Spur. Hatte Holzer ihn erwischt? Flavio. Nele wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Es durfte einfach nicht sein.
Johanna hatte die Kirchentür erreicht, riss sie auf und Nele stürzte an ihr vorbei.
»Giovanni! Holzer! Er hatte ein Messer, wir …«
»Wo ist Flavio?«, fiel Giovanni ihr ins Wort. Er hatte in der Kirche gewartet, damit sie Holzer auf keinen Fall verpassten. Er packte Nele an der Schulter. »Verdammt! Wo ist Flavio? Was ist passiert?«
Nele schüttelte benommen den Kopf. »Ich glaube, Holzer hat ihn.« Sie schluchzte auf. »Er hatte ein Messer und wir sind weggelaufen.« Tränen liefen über ihr Gesicht und sie wagte es nicht, Flavios Vater in die Augen zu sehen. »Holzer war schneller und Flavio hat es nicht geschafft.«
»Nein!« Giovanni stieß Nele zur Seite und stürzte zum Nebenausgang der Kirche. Aber Nele hielt ihn am Ärmel fest. Giovanni durfte jetzt nicht einfach weglaufen. Sie hatte ja selbst panische Angst um Flavio. Im Moment wusste sie nicht mal, um wen sie mehr Angst hatte, um Flavio oder um Jan. Aber wenn Giovanni jetzt verschwand und sie Holzer vielleicht verpassten, dann stünden nur noch sie und Johanna hier vor dem Altarbild, und wie sollten sie allein Holzer daran hindern, diese Zeit zu verlassen? Giovanni musste bei ihnen bleiben, unbedingt!
»Warte, Giovanni!« Nele hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht an seinen Arm. Giovanni versuchte vergeblich, sie abzuschütteln. »Bleib hier, bitte! Johanna, hilf mir. Sag Giovanni, dass er nicht weggehen soll.« Da fiel ihr Blick auf Johanna. Sie stand mit weit aufgerissenen Augen vor dem Altarbild.
»Johanna?« Nele wollte Giovanni nicht loslassen, aber der Anblick des Mädchens machte ihr Angst. »Johanna, ist alles in Ordnung?«
Auch Giovanni drehte sich zu Johanna um.
»Das Bild«, Johanna sprach so leise, dass Nele sich anstrengen musste, sie überhaupt zu verstehen, »das Bild, es fängt an, sich zu verändern!«
»Unsinn!« Giovanni war mit zwei Schritten bei Johanna. »Ich kann keine Veränderung feststellen. Das Bild sieht aus wie immer.«
Johanna schüttelte den Kopf und zeigte nach rechts. »Nein. Schaut doch. Der Mönch …«
Angestrengt betrachtete Nele das Gemälde und dann sah auch sie es.
Der Mann, für den Holzer offensichtlich Modell gestanden hatte, trug auf einmal eine fast weiße Kutte. Und in seiner Hand hielt er ein Schwert. Das Flammenschwert des Erzengels Michael.
»Ob Holzer schon durch das Gemälde gegangen ist?« Nele wagte es kaum, diesen Gedanken auszusprechen. Die Angst, sie könnten zu spät gekommen sein, war fast unerträglich.
Giovanni starrte noch immer auf das Gemälde. In seinem Blick sah Nele Erstaunen und Entsetzen zugleich. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Nein, Holzer war auf gar keinen Fall hier in der Kirche.«
Nele konnte den Blick nicht von dem Gemälde abwenden. Es hätte sie nicht gewundert, wenn plötzlich alle Gestalten darauf lebendig geworden wären.
»Die Augen!«, rief sie mit einem Mal. »Diese Augen sind verschwunden!«
»Genau wie wir beide gleich!«
Nele fuhr herum. Diese Stimme hatte sich ein für alle Mal in ihre
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