Holundermond
Gedächtnis gebrannt.
Holzer.
Fast hätte sie den Historiker in seiner weißen Kutte nicht erkannt. Mit langen Schritten durchquerte er das Kirchenschiff und vor sich her trieb er Flavio. Mit einer Hand hatte er die Haare ihres Freundes gepackt, mit der anderen drückte er ihm ein Messer an die Kehle. Flavios Gesicht war schmerzverzerrt, und trotzdem versuchte er bei jedem Schritt, sich aus Holzers Griff zu befreien.
»Holzer, du Schwein! Lass sofort meinen Sohn los!« Giovanni wollte sich auf den Historiker stürzen, doch der drückte sein Messer noch fester an Flavios Kehle.
Flavio schrie auf und fasste sich an den Hals. Zwei kleine Blutstropfen quollen zwischen seinen Fingern hervor.
»Ich warne dich, Giovanni, wenn dir das Leben deines Sohnes etwas bedeutet, dann bleib, wo du bist. Keiner von euch rührt sich von der Stelle«, wandte er sich an Johanna und Nele, die vor Angst kaum zu atmen wagte. »Und jetzt«, raunte Holzer Flavio ins Ohr, »jetzt werden wir zwei eine kleine Reise machen. Eine Reise durch die Zeit. Das ist Geschichtsunterricht vom Allerfeinsten, Flavio Giordanetto!« Holzer lachte höhnisch und stieß Flavio weiter auf das Altarbild zu.
Flavios Augen waren weit vor Entsetzen. Nur noch zwei Stufen trennten sie von dem Gemälde.
Er wand sich unter Holzers Griff, ohne auf das Messer an seinem Hals zu achten. »Lass mich los!«, stieß er unter einem Schwall italienischer Flüche hervor. »Nimm deinen dreckigen Finger von mir, du elender Verräter! Du bist nichts weiter als ein dreckiger Dieb. Eigentlich bist duschon lange ein toter Dieb, hast du das vergessen? Wer hat dich umgebracht? Deine Habgier? Oder hat dir einer der Türken seinen Krummsäbel über den Schädel gezogen?« Mit einem Aufschrei verstummte Flavio. Holzer hatte seinen Griff verstärkt und schob ihn noch energischer auf den Altarraum zu.
In Neles Kopf arbeitete es fieberhaft. Wo hatte Holzer das Flammenschwert? Dann sah sie das Bündel, das er sich unter den Arm geklemmt hatte. Aber wo waren die anderen Gegenstände? Hatte Holzer diese schon in die Vergangenheit gebracht? Sie mussten verhindern, dass der Historiker mit Flavio das Gemälde erreichte, aber wie sollten sie das anstellen, ohne Flavios Leben aufs Spiel zu setzen? Giovanni, tu doch irgendwas, flehte sie innerlich, aber sie wusste, dass selbst Giovanni die Hände gebunden waren.
Jetzt hatten Holzer und Flavio die Stufen erreicht.
»Los, beweg dich!« Holzer stieß Flavio nach oben. »Wir werden erwartet und ich habe nicht ewig Zeit. Noch nicht!« Er lachte.
Nele wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton heraus.
Entsetzt sah sie, wie Holzer Flavio nach vorne stieß, als sei das Gemälde nichts anderes als ein Trugbild aus bunter Luft, und dann – waren beide verschwunden.
»Nein!« Mit einem Aufschrei stürzte Giovanni die Stufen hoch. Er warf sich gegen das Altarbild, fuhr panisch mit seinen Händen von links nach rechts darüber, schlug auf das dunkle Leinen, als suche er nach einem verborgenenMechanismus, der ihm die Tür in die andere Welt öffnen konnte. »Nein! Nein! Nein! Gib mir meinen Sohn zurück!«
Nele stand immer noch regungslos da. Sie sah Giovanni, wie er mit den Fäusten gegen das Gemälde trommelte. Sie sah Johanna, die leise auf Giovanni einsprach.
Weg.
Nele konnte nur dieses eine Wort denken. Weg. Holzer war weg und mit ihm Flavio. Weg. Verschwunden in eine Zeit, in die sie ihm nicht folgen konnte. Oder doch?
Johanna! Mit ihr könnte sie durch das Gemälde gehen und Flavio suchen. Aber wo sollten sie anfangen? In Holzers Zeit? In Johannas Zeit? Und selbst wenn sie die richtige Zeit fanden, hätten sie keine Ahnung, wo sie nach Flavio suchen sollten.
»Nele?« Viviane trat neben sie und berührte sie sanft an der Schulter. »Sag uns, was passiert ist.«
Neben Viviane, hoch aufgerichtet und mit einer sauberen wollweißen Kutte der Kartäuser bekleidet, stand ein Mönch und schaute Nele fest in die Augen. Theophil. Nele senkte den Blick. Zu spät, dachte sie nur. Viviane und Theophil kamen zu spät.
31
»Ein Ton und ich schneide dir die Kehle durch.«
Holzer zog Flavio auf die Füße und stieß ihn vor sich die Stufen herunter.
Es war stockfinster in der Kirche, aber Flavio musste nichts sehen. Er wusste auch so, dass Holzer sie in Johannas Zeit gebracht hatte. Der Geruch verriet es ihm. Diesen würde er nie wieder vergessen.
Den Gestank der Menschen, die hier lagen und auf den Tod warteten. Kranke, sterbende Menschen, aber
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