Homo ambrosius (Die Chimären) (German Edition)
hier.“ Sie schaute in die Richtung, aus der die Stimme kam, und sah einen jungen, etwas schlaksigen Tobias auf sich zukommen, er nahm bei ihnen Platz. Nicht das Bild des jungen Mannes überraschte sie, sondern seine Augen. Tobias sah sie durchdringend an. Er vermied den Blickkontakt nicht. Es war ein selbstbewusster, fast herausfordernder Blick. Keine Frage, sie befanden sich in seiner Welt, hier war er zu Hause.
„Mein Avatar sieht ein wenig besser aus als ich im Moment. Die virtuelle Welt bietet einige Vorteile“, sagte Tobias lächelnd.
„Die Technologie ist verblüffend. Ich wusste nicht, dass sie schon so weit ist“, bemerkte Mary.
„Sie war auch noch nicht so weit“, sagte Tobias. „Sie wäre in etwa zwanzig Jahren so weit gewesen.“
Brian wollte etwas sagen, ganz unbewusst legte Mary ihre Hand auf seinen Arm. Sie berührten sich virtuell, konnten sich aber physisch tatsächlich spüren, obwohl sie in dem kleinen Raum in ihren Sesseln etwa einen Meter voneinander entfernt saßen.
„Mit der Tastsinnsimulation bin ich noch nicht ganz zufrieden“, sagte Tobias, „es fehlt noch das typische Fingerspitzengefühl, was denkt ihr?“
„Für mich fühlt es sich absolut echt an, aber jetzt, wo du es sagst: Ich spüre keine Wärme.“ Während Mary sprach, wurde Brians Arm unter ihrer Hand warm.
„Besser?“
Sie nickte und kam auf ihr Thema zurück. „Der chinesische Staatspräsident ist auf dem Weg zu uns, wir rechnen morgen mit ihm.“
„Danke für die Information, Frau Taydon. Das ist gut.“
„Was wird passieren, wenn er da ist, was haben Sie vor?“
„Ich werde mit ihm reden. Ich vermute, er hat die eine oder andere Frage.“
„Und dann?“
„Wenn ich mein Gespräch mit Feng beendet habe, aktiviere ich für Brian den Zugang zum System.“
„Keine weiteren Bedingungen?“
„Keine weiteren Bedingungen.“
Mary schaute ihn irritiert an. „Der ganze Aufwand nur, damit Sie mit ihm reden können? Das glaube ich Ihnen nicht.“ Sie konnte nicht in Tobias’ Gesicht lesen, es war zwar lebensecht, aber doch das eines Avatars. Mary fühlte sich einer ihrer stärksten Waffen beraubt.
„Nein, es gibt einen Grund für das Treffen. Ihr werdet es nach eurer Reise durch mein und Fengs Leben verstehen. Ich will ihm endlich in die Augen sehen und ihm sagen, dass er das Spiel verliert. Momentan glaubt er noch, dass er gewinnen wird.“
„Du kennst Feng schon länger?“, fragte Brian.
„Ja, seit 2013. Er ist schuld am Tod zweier sehr guter Freunde von mir. Aber seht selbst.“
Später beim Abendessen war Tobias nicht dabei. Mary und Brian sprachen über das, was sie am Nachmittag mithilfe der HMDs erlebt hatten. Sie kannten jetzt Tobias’ Lebensgeschichte von dem Zeitpunkt an, als er mit vierzehn von zu Hause ausgerissen war. Sie erfuhren aus Tobias’ Sicht, wie er mit dem Gesetz in Konflikt kam, wie er mit Jakob Schell und Lisa Schlattmann zusammenarbeitete und wie die zwei Polizisten ermordet wurden, auch seine ersten Monate in England verfolgten sie.
Kurz vor dem Abendessen hatten sie noch die Mitteilung erhalten, dass der chinesische Staatspräsident am nächsten Tag gegen 9 Uhr in Heathrow landen würde. Dérúgo Feng, der britische Premierminister und ihr Tross sollten gegen 12 Uhr in Aberystwyth eintreffen.
Marys und Brians Zeit wurde knapp, entsprechend schnell aßen sie. Mary legte bald ihr Besteck auf den Teller und trank noch ihr Glas Wasser leer, auf Wein hatten sie beide verzichtet.
„Es ist jetzt 19:30 Uhr, um 8 Uhr müssen wir morgen berichten, wir haben also noch knapp zwölf Stunden Zeit. Wo beziehungsweise wann sollen wir deiner Meinung nach anfangen?“, fragte Mary.
„Zuerst sollten wir uns entspannen“, sagte Brian, und Mary schaute ihn irritiert an.
„Wir können sowieso nichts ausrichten, egal was wir erfahren, es wird uns lediglich helfen zu verstehen. Wir sind nur Zeugen.“
„Das mag sein, Brian. Und wir haben beide einen Denkfehler gemacht.“
„Welchen Denkfehler?“
„Vielleicht auch mehrere. Unser Auftrag lautete, herauszufinden, was Tobias gemacht hat, wie er es gemacht hat und wie man es wieder rückgängig macht. Was er gemacht hat, wissen wir, zumindest in groben Zügen. Wie er es gemacht hat? Davon haben wir keine Ahnung. Wie man es rückgängig machen kann, können wir noch nicht einmal erahnen. Es scheint zumindest teilweise möglich. Unser Denkfehler war, dass wir glaubten, wir könnten Tobias verstehen, beeinflussen, durchschauen
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