Homo ambrosius (Die Organhändler) (German Edition)
und Unzufriedenheit.
Der Arzt zögerte nur einen winzigen Moment, als er ihn sah. Der Unwille, ihm zu begegnen und mit ihm zu reden, war vielleicht eine Sekunde lang in seinem Gesicht. Ohne Frage konnte auch er mit Menschen umgehen.
Sein Kopf war plötzlich leer, eine fassungslose Leere, und bevor er sich darüber wundern konnte, stand der Arzt schon vor ihm und legte ihm die Hand auf den Arm.
„Es tut mir leid, Herr von Bösental, wir konnten nichts mehr für Ihren Sohn tun. Setzen wir uns doch“, dabei zog er ihn leicht am Arm in Richtung einer Sitzgruppe. Er wartete kurz, bevor er weitersprach.
„Das Timing von Organentnahme, Vorbereitung der Operation und die Operation selbst, alles verlief unglaublich gut. Die Werte waren hervorragend, über sechsundneunzig Prozent Übereinstimmung, und das Organ sah hervorragend aus, der Spender war zum Zeitpunkt seines Unfalles jung und gesund. Alles wie im Lehrbuch.“ Er machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion. Von Bösental schwieg und stierte vor sich auf den Boden.
„Nachdem wir das Herz reanimiert hatten, fing es sofort an zu schlagen. Die üblichen Tests waren alle positiv, wir schlossen den Brustraum. Und in dem Moment, als wir Ihren Sohn aus dem Operationsraum schieben wollten, hörte das Herz plötzlich auf zu schlagen. Die Reanimation war erfolglos.“ Der Arzt wartete einen Moment. Er spürte die Fassungslosigkeit seines Gegenübers. „Es tut mir leid. Mein herzliches Beileid, Herr von Bösental. Wenn Sie noch Fragen haben?“
„Kennen Sie die Ursache?“ Seine Stimme klang beherrscht, doch der erfahrene Arzt musste den unterschwelligen Zorn spüren. Er wusste, dass er einen mächtigen Bankmanager vor sich hatte, jemanden, der es gewohnt war, dass es für alles einen Schuldigen gab, den man zur Rechenschaft ziehen konnte. Er musste aufpassen, was er sagte.
„Jetzt, so kurz danach, ist es natürlich schwer zu sagen. Aber in ähnlich gelagerten Fällen lag es jeweils zu neunundneunzig Prozent am Organ. Ein nicht diagnostizierter Herzfehler oder eine Krankheit, die selbst der Spender noch nicht kannte. Wir werden es wohl nie erfahren. Glauben Sie mir, es lag am Spenderherz.“
Von Bösental schwieg. Der Arzt wartete wortlos, das Schweigen dehnte sich aus. Es war kein trauerndes Schweigen, das der Arzt mit dem Mann, der gerade seinen einzigen Sohn verloren hatte, teilen konnte. Das Schweigen glich mehr der Stille vor dem Sturm, da saß ein Vulkan, in dem es brodelte, der kurz vor dem Ausbruch stand. Der Mann musste raus aus dem Krankenhaus.
„Kann ich ihn sehen?“ Die Frage riss den Arzt aus seinen Gedanken.
„Selbstverständlich, Herr von Bösental, ich bringe Sie zu ihm.“
Kaum waren die beiden Männer aufgestanden, zog der Banker sein Handy aus der Tasche und wählte. „Franz, ich bin in zwanzig Minuten am Südeingang der Universitätsklinik. Wir fahren zurück in die Bank.“
Der Arzt atmete erleichtert auf. Der Vulkan würde wohl nicht ausbrechen, zumindest nicht im Krankenhaus.
Als von Bösental aus dem Krankenhaus trat, war der Himmel voller dunkler Wolken und es regnete. Er merkte es nicht. Auf den wenigen Metern zu seinem schwarzen Mercedes durchnässte ihn der Regen bis auf die Haut und presste ihm die dunklen Haare an den Schädel. Seine Augen waren gerötet. In seinem Leben hatte es bisher nur wenige Momente gegeben, in denen er vollständig die Fassung verloren hatte. Gerade jetzt war er nur noch eines: ein trauernder, einsamer, tiefverletzter Mensch.
Der Chauffeur sprang aus dem Auto, um ihm die Tür zu öffnen. Er sagte nichts.
Bei seinem toten Sohn hatte von Bösental fünfzehn Minuten Abschied genommen. Dann war er geflüchtet. Als er im Wagen saß, kam er langsam wieder zu sich und merkte, dass er verschwitzt und durchnässt war. Er musste den Anzug wechseln.
„Wir fahren zuerst nach Hause, Franz. Ich muss duschen und mich umziehen, dann zur Bank. Rufen Sie im Sekretariat an, dass ich ab circa 15 Uhr wieder in der Bank bin. Die Sitzungen holen wir ab 19 Uhr nach. Das wird eine lange Nacht.“ Er hatte wieder seine Maske aufgesetzt.
Arbeit war seine Medizin, schon immer gewesen. Jetzt war er ganz allein, musste auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Vor fünf Jahren war seine Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen, heute war sein Sohn gestorben, sein einziges Kind.
Dabei schien plötzlich alles so einfach zu sein. Nach monatelangem Zittern, Hoffen und Bangen war auf einmal die Chance da, etwas zu tun und
Weitere Kostenlose Bücher