Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
große Pfanne Porcini zu, wie er sie nannte, mit Olivenöl, Pfeffer, Salz und Pancetta, dazu gab es gegrillte Polenta, Salat und Rotwein, einen Barolo. In den Siebzigern ein exotisches Mahl. Ich erinnere mich an alles – an den geschrubbten Kiefernholztisch mit den ramponierten, in einem hellen Türkiston gestrichenen Beinen, an die weite Fayenceschüssel voller glibberiger Steinpilze, die Scheibe Polenta, die wie eine Miniatursonne auf dem blassgrünen Teller mit der gesprungenen Glasur leuchtete, die staubige schwarze Weinflasche, die alte weiße Schüssel mit dem würzigen Rucola, und daran, wie Tony in Sekunden den Salat anmachte, mit Öl und einer halben Zitrone, die er, so kam es mir jedenfalls vor, wie beiläufig in seiner Faust ausdrückte, während er den Salat zum Tisch trug. (Meine Mutter braute ihre Salatsaucen auf Augenhöhe zusammen wie ein Industriechemiker.) Tony und ich nahmen an diesem Tisch viele ähnliche Mahlzeiten ein, aber diese kann für alle anderen stehen. Welche Schlichtheit, was für ein Geschmack, was für ein Mann von Welt! Es war stürmisch an diesem Abend, und der Ast einer Esche pochte und kratzte auf dem Strohdach. Nach dem Essen wurde gelesen, dann natürlich geredet, aber erst nach dem Sex, und dies erst nach einem weiteren Glas Wein.
    [33] Als Liebhaber? Na ja, naturgemäß nicht so kraftvoll und unermüdlich wie Jeremy. Und obwohl Tony ganz gut in Form war für sein Alter, war ich beim ersten Mal doch ein wenig schockiert zu sehen, was vierundfünfzig Jahre mit einem Körper anrichten können. Er saß nach vorn gebeugt auf der Bettkante und zog eine Socke aus. Sein armer nackter Fuß sah aus wie ein abgetragener alter Schuh. Ich bemerkte Fleischfalten an den unmöglichsten Stellen, sogar unter seinen Armen. Wie seltsam, dass mir in meiner sofort unterdrückten Überraschung nicht der Gedanke kam, dass ich meine eigene Zukunft vor Augen hatte. Ich war einundzwanzig. Was ich für die Norm hielt – straff, glatt, geschmeidig –, war der kurzlebige Spezialfall der Jugend. Die Alten waren für mich eine eigene Spezies, wie Spatzen oder Füchse. Und was würde ich heute dafür geben, noch einmal vierundfünfzig zu sein! Das größte Organ des Körpers trägt die Hauptlast – die Alten passen nicht mehr in ihre Haut. Sie hängt von ihnen, von uns herab, wie ein auf Zuwachs gekaufter Schulblazer. Oder ein Pyjama. In einem gewissen Licht, es mag freilich auch an den Schlafzimmervorhängen gelegen haben, hatte Tony etwas Vergilbtes, wie ein altes Taschenbuch, in dem man von diversen Kalamitäten lesen konnte – zu üppigem Essen, Narben von Knie- und Blinddarmoperationen, von einem Hundebiss, einem Sturz beim Bergsteigen und einem Unfall mit einer Bratpfanne als Kind, der eine kleine kahle Stelle in seinem Schamhaar hinterließ. Rechts auf seiner Brust zog sich eine weiße, zehn Zentimeter lange Narbe Richtung Hals, über deren Geschichte er sich konsequent ausschwieg. Gewiss, er war ein wenig… stockfleckig, und zuweilen ähnelte er [34] dem verschlissenen Teddybär meiner Kindheit im Kathedralenviertel, aber als Liebhaber war er weltmännisch und aufmerksam. Geradezu galant. Ich fand Gefallen an der Art, wie er mich auszog und sich meine Sachen wie ein Bademeister über den Arm legte, und an seiner Aufforderung, mich auf sein Gesicht zu setzen – für mich ebenso neu wie der Rucola, diese Nummer.
    Ich hatte auch Vorbehalte. Manchmal war er hastig, wollte zu schnell zu anderem übergehen – seine wahren Leidenschaften waren Trinken und Reden. Später hielt ich ihn mitunter für egoistisch, für reaktionär, wenn er eilig auf seinen Höhepunkt zustürmte, den er jedes Mal mit einem keuchenden Schrei erreichte. Und für zu besessen von meinen Brüsten, die damals bestimmt sehr hübsch waren, aber dass ein Mann im Alter des Bischofs fast wie ein Säugling darauf fixiert war und wimmernd daran nuckelte, kam mir irgendwie nicht richtig vor. Er war einer dieser Engländer, die man mit sieben ihrer Mama entrissen und ins abstumpfende Exil einer Internatsschule geschickt hatte. Die armen Kerle gestehen den Schaden niemals ein, sie leben notgedrungen damit. Aber das waren unwesentliche Kritikpunkte. Für mich war das alles neu, ein Abenteuer, das meine eigene Reife unter Beweis stellte. Ein erfahrener, älterer Mann war in mich vernarrt. Ich verzieh ihm alles. Und ich liebte diese weichen Lippen. Er küsste wunderbar.
    Trotzdem, am liebsten war er mir, wenn er wieder in seiner Kleidung

Weitere Kostenlose Bücher