Honig
–, ließ mich das Ganze noch einmal lesen und stellte noch mehr Fragen. Diese mündlichen Examina wurden auf Spaziergängen im Wald abgehalten oder beim Wein nach dem Abendessen, das er für uns gekocht hatte. Ich nahm ihm seine Hartnäckigkeit übel. Ich wollte seine Geliebte sein, nicht seine Schülerin. Ich ärgerte mich über ihn und gleichzeitig über mich, wenn ich ihm eine Antwort schuldig blieb. Doch dann, ein paar missmutige Lektionen später, begann ich ein wenig Stolz zu empfinden, und nicht nur, weil ich besser wurde. Allmählich interessierte mich auch die Geschichte selbst. Ich war auf etwas Kostbares gestoßen, und das, wie mir schien, ganz von allein, genau wie ehedem auf die Unterdrückung in der Sowjetunion. War England gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts nicht die freieste und wissbegierigste [38] Gesellschaft, die es je auf Erden gegeben hatte? War die englische Aufklärung nicht folgenreicher als die französische? War es nicht richtig, dass England sich abgesondert hatte, um gegen den katholischen Despotismus auf dem Kontinent zu kämpfen? Wir waren jedenfalls die Erben dieser Freiheit.
Ich war leicht zu führen. Er bereitete mich auf das erste Vorstellungsgespräch vor, das im September stattfinden sollte. Er wusste, was für eine Art von Engländerin sie einstellen würden, oder er eingestellt hätte, und sorgte sich, dass meine einseitige Ausbildung mir zum Nachteil gereichen könnte. Er ging – irrtümlicherweise, wie sich zeigte – davon aus, dass einer seiner ehemaligen Studenten bei dem Gespräch dabei sein würde. Er bestand darauf, dass ich täglich die Zeitung las, worunter er natürlich die Times verstand, damals noch die unangefochtene Referenz. Bis dahin hatte ich mich nicht sonderlich für die Presse interessiert und noch nie einen Leitartikel gelesen. Anscheinend handelte es sich dabei um das »pulsierende Herz« einer Zeitung. Auf den ersten Blick glich die Prosa einem Schachproblem. Schon war ich Feuer und Flamme. Ich bewunderte diese pompösen, gebieterischen Verlautbarungen zu öffentlichen Angelegenheiten. Die Meinungen waren oft etwas undurchsichtig, dafür aber gerne mit Tacitus- und Vergil-Zitaten untermauert. Wie erwachsen! Ich fand, dass jeder dieser anonymen Autoren das Zeug zum Weltherrscher hatte.
Und worum ging es aktuell? In den Leitartikeln kreisten prachtvolle Nebensätze elliptisch um die Fixsterne der Hauptverben, aber auf den Leserbriefseiten wurde Klartext geredet. Die Planeten waren in Schieflage, und die [39] Briefschreiber wussten es tief in ihren verängstigten Herzen: Das Land versank in Verzweiflung, Tobsucht und hoffnungsloser Selbstzerfleischung. Das Vereinigte Königreich, verkündete ein Leserbrief, habe sich dem Rausch der Akrasie ergeben – das griechische Wort, erklärte mir Tony, für Handeln wider besseres Wissen. (Hatte ich denn Platons Protagoras nicht gelesen?) Ein nützliches Wort. Ich merkte es mir. Aber es gab kein besseres Wissen, nichts, dem man zuwiderhandeln konnte. Alle waren durchgedreht, behaupteten jedenfalls alle. Das archaische Wort »Zwietracht« war groß in Mode in diesen stürmischen Zeiten: Inflation schürte Streiks, Tarifabschlüsse schürten die Inflation, dumpfe Spesenritter hatten in der Wirtschaft das Sagen, sture Gewerkschaften träumten von Revolution, die Regierung war schwach, dazu kamen Energiekrisen und Stromausfälle, Skinheads, verdreckte Straßen, der Nordirlandkonflikt, Atomwaffen. Dekadenz, Verfall, Niedergang, Schlendrian und Apokalypse…
Beliebte Themen der Leserbriefe an die Times waren die Kumpels in den Minen, »ein Arbeiterstaat«, die bipolare Welt von Enoch Powell und Tony Benn, mobile Streikposten und der Kampf um Saltley. Ein Konteradmiral im Ruhestand schrieb, das Land gleiche einem rostigen Schlachtschiff mit Lecks unterhalb der Wasserlinie. Tony las den Brief beim Frühstück und wedelte geräuschvoll mit der Zeitung – damals knitterte Zeitungspapier noch und raschelte laut.
»Schlachtschiff?«, schäumte er. »Von wegen! Noch nicht mal eine Korvette. Ein verdammtes Ruderboot, das gerade absäuft!«
[40] 1972 war erst der Anfang. Als ich die Zeitung zu lesen begann, lagen die Dreitagewoche, die nächsten Stromausfälle und die Erklärung des fünften Ausnahmezustands durch die Regierung nicht mehr in allzu großer Ferne. Ich glaubte, was ich las, aber es schien wenig mit mir zu tun zu haben. Cambridge war ziemlich unverändert, ebenso der Wald um Cannings Cottage. Trotz meiner
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