Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
Abschluss zu machen, ich musste in einem Cottage in Suffolk mit einem freundlichen alten Lüstling schlafen, in Deinem möblierten Zimmer in Camden wohnen, einen schmerzlichen Verlust erleiden, Deine Haare waschen und Deine Röcke für die Arbeit bügeln und morgendliche U-Bahn-Fahrten erdulden, Dein Streben nach Unabhängigkeit ebenso fühlen wie die Bande, die Dich an Deine Eltern ketten und Dich an der Brust Deines Vaters in Tränen ausbrechen ließen. Ich musste Deine Einsamkeit erleben, Deine Unsicherheit, Deinen Wunsch nach Anerkennung von Vorgesetzten, Deine Unschwesterlichkeit, Deine kleinen snobistischen Anfälle, Deine Ignoranz und Eitelkeit, Dein kaum vorhandenes soziales Gewissen, Deine Anwandlungen von Selbstmitleid und Deine orthodoxen Ansichten zu den meisten Dingen. Und das alles, ohne Deine Klugheit, Schönheit und Zärtlichkeit zu vergessen, Deine Freude an Sex, Deine Lebenslust, Deinen trockenen Humor und Deine reizenden Beschützerinstinkte. Während ich in Dir lebte, sah ich deutlich mich selbst: meine Habgier und meine Statussucht, meine an Autismus grenzende [457] Zielstrebigkeit. Und auch meine groteske Eitelkeit in Bezug auf Sex, Kleidung und Ästhetik – warum sonst hätte ich Dich dazu gebracht, endlos über meinen Geschichten zu verweilen, warum sonst hätte ich meine Lieblingssätze kursiv markiert?
    Um Dich aufs Papier zu bringen, musste ich Du werden und Dich verstehen (das wird einem abverlangt, wenn man einen Roman schreibt), und dabei ist, nun ja, das Unvermeidliche passiert. Als ich in Deine Haut schlüpfte, hätte ich die Konsequenzen bedenken sollen. Ich liebe Dich immer noch. Nein, stimmt nicht. Ich liebe Dich noch mehr.
    Du denkst vielleicht, wir stecken zu tief im Sumpf der Täuschung, wir haben einander genug Lügen für ein ganzes Leben erzählt und unsere Betrügereien und Demütigungen haben die Gründe, die für eine Trennung sprechen, verdoppelt. Ich stelle mir lieber vor, das alles hebt sich gegenseitig auf, und wir sind zu sehr in wechselseitiger Beobachtung miteinander verflochten, als dass wir voneinander lassen könnten. Ich habe die Aufgabe schon übernommen, über Dich zu wachen. Möchtest Du nicht das Gleiche für mich tun? Worauf ich mit alldem hinauswill, ist eine Liebeserklärung und ein Heiratsantrag. Hast Du mir nicht einmal Deine altmodische Ansicht anvertraut, so müsse ein Roman enden: mit einem »Heirate mich«? Mit Deiner Erlaubnis möchte ich dieses Buch, das da vor Dir auf dem Küchentisch liegt, eines Tages publizieren. Es ist nicht direkt eine Apologie, eher eine Anklage gegen uns beide, die uns nur noch fester zusammenschweißen kann. Aber es gibt Hindernisse. Wir möchten doch nicht Dich oder Shirley oder selbst Mr. Greatorex auf Geheiß Ihrer Majestät [458] hinter schwedischen Gardinen schmachten sehen, also werden wir bis weit ins einundzwanzigste Jahrhundert warten müssen, wenn die Verjährungsfrist abgelaufen sein wird. Ein paar Jahrzehnte bieten Dir hinreichend Zeit, meine Mutmaßungen hinsichtlich Deiner Einsamkeit zu entkräften, mich über den Rest Deiner Geheimdienstarbeit und auch darüber aufzuklären, was wirklich zwischen Dir und Max gewesen ist. Zeit genug auch, um das Ganze mit der einen oder anderen zurückblickenden Formulierung zu unterfüttern: damals, in jenen Zeiten, das waren die Jahre, als… Oder wie wär’s mit: »Heute, wo der Spiegel etwas anderes sagt, kann ich es aussprechen und hinter mich bringen. Ich war wirklich hübsch.« Zu grausam? Kein Grund zur Sorge, ich werde nichts ohne Deine Zustimmung einfügen. Wir werden auch nichts überstürzt in Druck geben.
    Ich bin mir sicher, dass ich nicht mein ganzes Leben lang öffentlicher Verachtung ausgesetzt sein werde, aber es könnte noch eine Weile so bleiben. Zumindest sind die Welt und ich uns jetzt so weit einig – ich brauche eine unabhängige Einkommensquelle. Ich habe unter Umständen eine Stelle am Londoner University College in Aussicht. Die suchen einen Spenser-Spezialisten, und angeblich stehen meine Chancen nicht schlecht. Ich glaube auch langsam daran, dass die Lehrtätigkeit und das Schreiben sich nicht unbedingt ausschließen. Und Shirley sagte mir, sie hat vielleicht in London etwas für Dich, falls Du interessiert bist.
    Heute Abend fliege ich nach Paris und besuche einen alten Schulfreund, der mich für ein paar Tage beherbergen kann. Wenn sich die Lage beruhigt hat, wenn ich aus den [459] Schlagzeilen bin, komme ich sofort zurück. Ist Deine Antwort

Weitere Kostenlose Bücher