Honig
Geschichtslektionen glaubte ich nicht, dass das Schicksal der Nation mich unmittelbar betraf. Meine Klamotten passten bequem in einen Koffer, ich besaß weniger als fünfzig Bücher, ein paar Kindersachen in meinem Zimmer zu Hause. Ich hatte einen Liebhaber, der mich vergötterte und für mich kochte und nie damit drohte, seine Frau zu verlassen. Meine einzige Verpflichtung war ein Vorstellungsgespräch – und bis dahin waren es noch Wochen. Ich war frei. Was wollte ich also mit meiner Bewerbung beim Geheimdienst? Den maroden britischen Staat, diesen kranken Mann von Europa, vorm Untergang bewahren? Nichts, ich wollte nichts. Ich wusste es nicht. Eine Gelegenheit hatte sich ergeben, und ich ergriff sie. Tony wollte es, also wollte ich es auch, und sonst hatte ich ja nichts vor. Also, warum nicht?
Im Übrigen fühlte ich mich meinen Eltern gegenüber noch immer zu Rechenschaft verpflichtet, und sie waren erfreut zu hören, dass ich mich in einem angesehenen Sektor des öffentlichen Dienstes, beim Gesundheits- und Sozialministerium, bewarb. Dort würde ich zwar keine Atome zertrümmern, wie meine Mutter es gehofft hatte, aber die Stabilität dieser Institution in turbulenten Zeiten schien sie darüber hinwegzutrösten. Sie wollte wissen, warum ich nach dem Examen nicht nach Hause zurückgekommen war, [41] und ich konnte ihr sagen, dass ein älterer Dozent so freundlich war, mich auf meinen »Auftritt« vorzubereiten. Da sei es sicherlich sinnvoll, ein billiges kleines Zimmer am Jesus-Green-Park zu mieten und »richtig ranzuklotzen«, auch an den Wochenenden.
Meine Mutter hätte hier vielleicht Bedenken äußern können, aber die Schwierigkeiten, in die meine Schwester in diesem Sommer geriet, lenkten sie ab. Lucy war schon immer lauter, quirliger und waghalsiger als ich gewesen und eine viel begeistertere Anhängerin der befreienden Sechziger, die sich jetzt in die nächste Dekade schleppten. Auch war sie nochmals fünf Zentimeter gewachsen und der erste Mensch, den ich je in abgeschnittenen Jeans gesehen hatte. Mach dich locker, Serena, sei frei! Lass uns verreisen! Sie wurde zum Hippie, gerade als das aus der Mode kam, aber so war das eben in provinziellen Kleinstädten. Außerdem verkündete sie aller Welt, ihr einziges Ziel im Leben sei, Ärztin zu werden, Allgemeinmedizinerin oder vielleicht Kinderärztin.
Dieses Ziel verfolgte sie auf Umwegen. Im Juli kam sie mit der Fähre von Calais nach Dover zurück und wurde von einem Zollbeamten aufgehalten, oder genauer, von dessen Hund, einem bellenden Bluthund, den der Geruch ihres Rucksacks in helle Aufregung versetzte. Im Innern des Rucksacks befand sich, eingewickelt in ungewaschene T-Shirts und hundesichere Plastiktüten, ein halbes Pfund türkisches Haschisch. Und in Lucys Innerem befand sich, ebenso wenig deklariert, ein heranwachsender Embryo. Die Identität des Vaters war ungewiss.
In den nächsten Monaten widmete meine Mutter einen [42] Großteil ihrer Zeit einer vierfachen Mission. Erstens galt es Lucy vor dem Gefängnis zu bewahren, zweitens die Sache aus den Zeitungen herauszuhalten, drittens den Rauswurf von der Uni Manchester zu verhindern, wo sie im zweiten Jahr Medizin studierte, und viertens, da wurde nicht lange gefackelt, musste die Abtreibung organisiert werden. Soweit ich das nach meinem Krisenbesuch zu Hause beurteilen konnte (Lucy roch nach Patschuli und schlang unter Tränen ihre sonnengebräunten Arme um mich), war der Bischof bereit, das Haupt zu senken und alles auf sich zu nehmen, was der Himmel ihm zugedacht hatte. Aber da hatte meine Mutter schon das Heft in die Hand genommen und entschlossen die Netzwerke aktiviert, die jede neunhundert Jahre alte Kathedrale in ihrer Umgebung und über das ganze Land ausgespannt hat. Zum Beispiel war der Polizeipräsident unserer Grafschaft nicht nur Laienprediger, sondern auch ein alter Bekannter des Polizeipräsidenten von Kent. Ein Freund vom konservativen Oxforder Studentenverband hatte Beziehungen zu dem Richter in Dover, vor dem Lucy zu erscheinen hatte. Dem Herausgeber unserer Lokalzeitung lag daran, dass seine vollkommen unmusikalischen Zwillingssöhne in den Chor der Kathedrale aufgenommen wurden. Tonhöhe ist natürlich etwas Relatives, aber man konnte ja nie wissen, und es war, wie meine Mutter mir versicherte, alles »ganz schön harte Arbeit« – nicht zuletzt die Abtreibung, für die Ärzte ein Routineeingriff, für Lucy zu ihrer Überraschung jedoch zutiefst verstörend. Am Ende bekam
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