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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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zu Dutzenden, ihres aber war mit einer Mischung aus E und U seiner Zeit voraus. Poesie und Popmusik, politische Theorie und Klatsch, Streichquartette und Studentenmode, nouvelle vague und Fußball. Zehn Jahre später gab es das überall. Rona hatte das Rezept vielleicht nicht erfunden, aber sie war eine der Ersten, die das Reizvolle daran sah. Später gelangte sie über das Times Literary Supplement zu Vogue, dann folgte ein fiebriges Auf und Ab mit Magazin-Neugründungen in Manhattan und Rio. Die zwei Fragezeichen im Titel ihrer ersten Zeitschrift waren eine Innovation, mit der sie es auf immerhin elf Ausgaben brachte. Sie hatte die Susann-Episode nicht vergessen und bat mich, eine regelmäßige Kolumne zu schreiben: ›Was ich letzte Woche gelesen habe‹. Und zwar »im Plauderton und quer durchs Gemüsebeet«. Kinderspiel! Ich schrieb, wie ich redete, lieferte nicht viel mehr als Zusammenfassungen der Bücher, die ich gerade verschlungen hatte, und pointierte meine Urteile in bewusster Selbstparodie mit zahlreichen Ausrufezeichen. Meine lockere alliterierende Prosa kam [16] gut an. Gelegentlich sprachen mich Fremde auf der Straße an und machten mir Komplimente dazu. Sogar mein spöttischer Mathedozent ließ sich zu einer lobenden Bemerkung herab. Es war das einzige Mal, dass ich ein wenig von jenem berauschenden Elixier namens Campus-Ruhm zu kosten bekam.
    Nach einem halben Dutzend dieser kessen Kolumnen ging etwas schief. Wie so viele Autoren, die ein wenig Beifall finden, nahm ich mich auf einmal zu ernst. Ich war eine junge Frau mit ungeschultem Geschmack, ein unbeschriebenes Blatt. Ich war reif zur Übernahme. Ich wartete, wie es in manchen Romanen hieß, auf den »Richtigen«, der mein Herz im Sturm erobern würde. Mein »Richtiger« war ein ernster Russe. Ich entdeckte einen Schriftsteller und ein Thema und wurde zur Schwärmerin. Plötzlich hatte ich ein Anliegen, hatte ich eine Mission zu erfüllen. Ich fing an, meine Texte endlos zu überarbeiten. Statt direkt aufs Papier zu plappern, schrieb ich die Texte um, zweimal, dreimal. Meiner bescheidenen Ansicht nach hatte sich meine Kolumne zu einer unentbehrlichen öffentlichen Institution entwickelt. Manchmal stand ich mitten in der Nacht auf, strich ganze Absätze und überzog die Seiten mit Pfeilen und Kreisen. Ich ging mit bedeutungsschwerer Miene spazieren. Mir war klar, meine Popularität würde darunter leiden, aber das kümmerte mich nicht. Es bewies nur, dass ich recht hatte, es war der Preis, den eine Heldin wie ich zu zahlen hatte. Bis dahin hatte ich die falschen Leser gehabt. Es kümmerte mich auch nicht, als Rona mir Vorhaltungen machte. Tatsächlich fühlte ich mich dadurch bestätigt. »Das ist nicht gerade im Plauderton«, sagte sie kühl, als sie mir [17] eines Nachmittags im Copper Kettle meinen Artikel zurückgab. »So war das nicht abgemacht.« Sie hatte recht. Von meiner Unbeschwertheit und den Ausrufezeichen war nichts mehr übrig, Zorn und Pathos hatten meine Interessen verengt und meinen Stil kaputtgemacht.
    Mein Abstieg hatte mit den fünfzig Minuten begonnen, die ich mit Alexander Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch in der neuen Übersetzung von Gillon Aitken verbrachte. Ich las das Buch unmittelbar nach Ian Flemings Octopussy . Ein harter Übergang. Ich wusste nichts von den sowjetischen Arbeitslagern und hatte das Wort »Gulag« noch nie gehört. Nach einer Jugend im Kathedralenviertel, was wusste ich da schon von den grausamen Absurditäten des Kommunismus, von den öden und weit abgelegenen Strafkolonien, in denen mutige Männer und Frauen gezwungen waren, Tag für Tag an nichts anderes zu denken als an ihr eigenes Überleben? Hunderttausende, in die sibirische Einöde verschleppt, weil sie in der Fremde für ihr Land gekämpft hatten, weil sie Kriegsgefangene gewesen waren, weil sie einen Parteifunktionär verärgert hatten, weil sie selbst Parteifunktionäre waren, weil sie eine Brille trugen, weil sie Juden waren, homosexuell, Bauern, die eine Kuh besaßen, Dichter. Wer erhob seine Stimme für all diese verlorenen Menschenleben? Bis dahin hatte ich mich nicht mit Politik abgegeben. Ich wusste nichts von den Diskursen und Enttäuschungen der älteren Generation. Auch nichts von der »linken Opposition«. Abgesehen von der Schule beschränkte sich meine Bildung auf ein bisschen zusätzliche Mathematik und Stapel von Taschenbuchromanen. Ich hatte keine Ahnung, und meine Empörung [18] war moralisch. Der

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