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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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teuflische Schmerzen bereitete. Er entschuldigte sich dafür, wie man sich für einen verrückten, aber entfernten Verwandten entschuldigen mag. Womit ich sagen will, dass es ihm nicht besonders peinlich war. Wir lösten das Problem, indem wir beim Sex ein gefaltetes Handtuch zwischen uns legten, wobei mir schien, dass er zu diesem Hilfsmittel schon oft gegriffen hatte. Er war sehr aufmerksam und geschickt und konnte so lange durchhalten, wie ich wollte, und darüber hinaus, [21] bis ich es nicht mehr aushielt. Er selbst jedoch kam trotz meiner Bemühungen nur selten zum Orgasmus, und ich begann zu argwöhnen, dass er etwas Bestimmtes von mir erwartete. Nur was? Er wollte es mir nicht sagen. Oder genauer, er beharrte darauf, es gebe da nichts zu sagen. Ich glaubte ihm nicht. Am liebsten wäre mir gewesen, er hätte heimliche, schmutzige Wünsche gehabt, die nur ich befriedigen konnte. Dieser stolze und höfliche Mann sollte mir ganz verfallen. Sehnte er sich danach, mir den Hintern zu versohlen, oder dass ich ihm den Hintern versohlte? Wollte er meine Unterwäsche anziehen? Dieses Rätsel verfolgte mich, wenn ich nicht mit ihm zusammen war, und machte es mir umso schwerer, nicht an ihn zu denken und mich auf meine Mathematik zu konzentrieren. Colette war meine Rettung.
    Eines Nachmittags Anfang April, nach einer Runde mit dem gefalteten Handtuch in Jeremys Wohnung, überquerten wir beim alten Corn Exchange die Straße, ich noch benommen vor Wonne und dem Schmerz einer damit zusammenhängenden Muskelzerrung im Kreuz, und er – na ja, ich wusste nicht recht. Im Gehen überlegte ich, ob ich das Thema noch einmal zur Sprache bringen sollte. Er gab sich liebevoll, sein Arm lag schwer auf meinen Schultern, während er mir von seinem Aufsatz über die Star Chamber erzählte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er richtig befriedigt war. Ich glaubte das an seiner angespannten Stimme zu erkennen, an seinem nervösen Tempo. Seit Tagen hatte er keinen einzigen Orgasmus gehabt. Ich wollte ihm helfen, und ich war aufrichtig neugierig. Außerdem beunruhigte mich der Gedanke, dass er womöglich enttäuscht von mir [22] war. Ich erregte ihn, so viel stand fest, aber vielleicht begehrte er mich nicht genug. Wir gingen in der frostigen Dämmerung eines feuchten Frühlingstages am Corn Exchange vorbei, der Arm meines Liebhabers wärmte mich wie ein Fuchspelzkragen, und mein Glücksgefühl war nur leicht beeinträchtigt von einem stechenden Schmerz im Rücken und eine Spur mehr von der Frage nach Jeremys geheimen Wünschen.
    Plötzlich kam uns aus einer schlechtbeleuchteten Seitenstraße Tony Canning entgegen, Jeremys Geschichtstutor. Wir wurden einander vorgestellt, er schüttelte mir die Hand und hielt sie, wie ich fand, viel zu lange fest. Er war Anfang fünfzig – etwa so alt wie mein Vater –, und ich wusste von ihm nur, was Jeremy mir erzählt hatte. Er war Professor und ein ehemaliger Freund des Innenministers Reggie Maudling, der auch schon in sein College zum Dinner gekommen war. Eines Abends hatten die beiden Männer sich im Suff über die Politik der Internierungen ohne Gerichtsverfahren in Nordirland zerstritten. Professor Canning war Vorsitzender einer Denkmalschutz-Kommission gewesen, saß in diversen Beratungsausschüssen und im Aufsichtsrat des British Museum und hatte ein allseits gelobtes Buch über den Wiener Kongress geschrieben.
    Er war einer von den Großen und Guten, ein Typ, der mir vage vertraut war. Männer wie er kamen gelegentlich zu uns nach Hause, um den Bischof zu besuchen. Jedem unter fünfundzwanzig gingen sie in dieser Nachsechzigerzeit natürlich auf die Nerven, aber ich mochte sie eigentlich auch. Sie konnten charmant sein, sogar geistreich, und die Wolke aus Zigarrenrauch und Kognakdunst, die sie [23] hinter sich herzogen, ließ die Welt wohlgeordnet und reich erscheinen. Sie hatten eine hohe Meinung von sich selbst, wirkten aber nicht unehrlich, und sie besaßen ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein gegenüber dem Staat, zumindest vermittelten sie diesen Eindruck. Sie nahmen ihre Vergnügungen ernst (Wein, Essen, Angeln, Bridge etc.), und manche hatten offenbar in interessanten Kriegen gekämpft. Ich hatte Kindheitserinnerungen, wie der eine oder andere von ihnen meiner Schwester und mir an Weihnachten eine Zehn-Pfund-Note zusteckte. Von mir aus konnten diese Männer die Welt regieren. Es gab viel schlimmere.
    Cannings Auftreten war von einer vergleichsweise gedämpften Grandeur, vielleicht

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