Honig
abgeklärte Miss Frome«, rief einer der Dozenten jeden Dienstagmorgen sarkastisch aus, wenn ich den Raum betrat. » Serenissima. Blauäugige! Erleuchten Sie uns!« Für meine Dozenten und Kommilitonen stand fest, dass ich deswegen scheitern musste, weil ich ein gutaussehendes Mädchen in einem Minirock und mit schulterlangen blonden Locken war. In Wirklichkeit musste ich scheitern, weil ich so war wie praktisch der ganze Rest der Menschheit – nämlich nicht besonders gut in Mathe, jedenfalls nicht auf Cambridge-Niveau. Ich versuchte, das Studienfach zu wechseln, mich für Englisch oder Französisch oder gar Anthropologie einzuschreiben, aber niemand [13] wollte mich. Damals hielt man sich strikt an die Regeln. Um eine lange, unerquickliche Geschichte abzukürzen: Ich hielt durch und schaffte mit Ach und Krach meinen Abschluss.
Wenn ich schon durch meine Kindheit und Jugend gestürmt bin, werde ich meine Studentenzeit erst recht raffen. Weder habe ich an Bootsfahrten teilgenommen (egal ob mit oder ohne Aufziehgrammophon), noch jemals das Footlights besucht – Theater ist mir peinlich –, noch mich bei den Garden-House-Krawallen festnehmen lassen. Immerhin habe ich im ersten Semester meine Unschuld verloren, mehrmals hintereinander, wie es schien, so wortlos und linkisch ging es dabei zu, und hatte über die neun Trimester eine ganz schöne Reihe von Liebhabern, sechs oder sieben oder acht, je nachdem, wie man Liebhaber definiert. Unter den Newnham-Frauen fand ich eine Handvoll gute Freundinnen. Ich spielte Tennis und las Bücher. Dank meiner Mutter studierte ich das falsche Fach, aber ich hörte nicht auf zu lesen. Gedichte und Theaterstücke hatte ich in der Schule links liegenlassen, aber ich glaube, Romane bereiteten mir mehr Vergnügen als meinen Unifreunden, die sich wöchentlich an Aufsätzen über George Eliots Middlemarch oder Thackerays Jahrmarkt der Eitelkeiten abrackern mussten. Ich las dieselben Bücher, im Eiltempo, plauderte zuweilen mit Leuten darüber, die mein niedriges Diskussionsniveau tolerierten, und las weiter. Lesen war meine Methode, nicht über Mathe nachzudenken. Vielmehr (oder weniger?), es war meine Methode, überhaupt nicht zu denken.
Wie gesagt, ich war schnell. Trollopes The Way We Live [14] Now verschlang ich in vier Nachmittagen auf dem Bett! Ich erfasste ganze Textblöcke und Absätze auf einen Blick. Ich brauchte meine Augen und Gedanken nur weich wie Wachs werden zu lassen, um den Eindruck frisch von der Seite aufzunehmen. Alle paar Sekunden schlug ich zur Irritation meiner Umgebung mit einer ungeduldigen Handbewegung eine Seite um. Meine Bedürfnisse waren schlicht. Themenkomplexe oder gelungene Wendungen interessierten mich nicht, und Beschreibungen von Wetter, Landschaften und Interieurs überblätterte ich sowieso. Ich wollte Figuren, an die ich glauben konnte, ich wollte neugierig darauf gemacht werden, wie es mit ihnen weiterging. Am liebsten las ich von Menschen, die sich ver- oder entliebten, aber es störte mich auch nicht, wenn sie sich zwischendurch mit anderen Dingen befassten. Selbst wenn es banal war, ich mochte es, wenn am Ende jemand sagte: »Heirate mich!« Romane ohne weibliche Figuren waren eine tote Wüste. Conrad kam deshalb für mich nicht in Frage, die meisten Erzählungen von Kipling und Hemingway ebenso wenig. Überhaupt machten große Namen keinen Eindruck auf mich. Ich las alles, was mir in die Finger kam. Groschenhefte, Hochliteratur und alles dazwischen – ich verschlang sie unterschiedslos.
Welcher berühmte Roman beginnt mit dem markigen Satz: Am Tag ihrer Ankunft zeigte die Quecksilbersäule dreiunddreißig Grad. Ist das nicht knackig? Das kennen Sie nicht? Die Literaturstudenten am Newnham College, mit denen ich befreundet war, reagierten belustigt auf meine Bemerkung, Das Tal der Puppen könne sich mühelos mit allem messen, was Jane Austen je geschrieben habe. Sie [15] lachten und zogen mich monatelang damit auf. Dabei hatten sie keine Zeile von Jacqueline Susanns Roman gelesen. Doch wen kümmerte das? Wen interessierten schon die halbgaren Meinungen einer drittklassigen Mathematikerin? Mich nicht, meine Freundinnen nicht. Wenigstens in dieser Hinsicht war ich frei.
Meine studentischen Lesegewohnheiten sind keine Abschweifung. Diese Bücher trugen mir meine Geheimdienstkarriere ein. In meinem letzten Studienjahr gründete meine Freundin Rona Kemp eine Wochenzeitschrift, die sie ?Quis? nannte. Solche Projekte entstanden und starben damals
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