Honigmilch
ihr aufging, was Rudi meinte. Max der Hüttenwirt ging an Krücken, das hatte sie ja soeben selbst mitbekommen. Und deshalb besaß er gewiss eine Sondergenehmigung, die ihm erlaubte, jederzeit in einem Wagen vom Zwiesler Waldhaus zur Falkenstein-Schutzhütte zu fahren.
Fanni wurde durch lautes Schnaufen zu ihrer Linken vom Gespräch der Bergwachtmänner abgelenkt. Ein älterer Herr in Bundhosen, Lodenjanker und Trachtenhut hetzte den Pfad herauf. Er trug einen abgeschabten Rucksack aus der Vorkriegszeit.
Luis Trenker!
Eher eine Parodie auf ihn, dachte Fanni.
Der Ankömmling war klein und rundlich und sah mehr nach gemütlichem Opa als nach Bergkraxler aus. Seine Brille war vom Atemdunst angelaufen. Als er das Plateau erreichte, nahm er sie ab und schwenkte sie an einem ihrer Drahtbügel hin und her, damit sie wieder klar wurde.
Während er mit kurzsichtigen Augen in die Runde blinzelte, entdeckte ihn Rudi.
»He, Krautdoktor!«, schrie er. »Hast du es auch schon mitgekriegt?«
Der Bundhosen-Opa setzte die Brille wieder auf, wandte sich der Gruppe um die beiden Bergwächter zu und sah Rudi geradezu flehentlich an.
»Annabel«, keuchte er.
Rudi zeigte auf den Felsblock hinter dem Geländer und schüttelte mit feierlich-ernster Miene den Kopf.
Der Opa schrie auf und stürzte auf die Planke zu, als wolle er darüberhechten. Sepp erwischte ihn am Lodenjanker.
»Der Annabel kann keiner mehr helfen«, sagte er. »Wir nicht und du auch nicht – ganz egal, wie viel Kräutersaft du ihr brauen würdest.«
Fanni hörte den Opa schluchzen.
Ich sollte absteigen und nach Eisenstein zurückfahren, dachte sie. Es ist schon spät. Um sieben Uhr wird im Festsaal das Abendessen aufgetragen. Es fällt auf, wenn ich nicht da bin.
Aber sie blieb sitzen.
Fanni blieb sitzen und starrte den Waldboden zu ihren Füßen an, bis sie Sprudel neben sich spürte. Er legte den Arm um ihre Schultern.
»Hofer wird gleich da sein«, sagte er.
Hofer? Im nächsten Augenblick fiel es ihr ein. Hofer war Dienststellenleiter der Polizeiinspektion Regen-Zwiesel. Sprudel und Hofer kannten sich aus gemeinsamen Jahren bei der Polizeidirektion in Straubing. Kurz nachdem Sprudel in Pension gegangen war, war Hofer zum Chef in Regen befördert worden. Er war es, der Sprudel eingeladen hatte, in seiner Dienststelle eine Vortragsreihe zum Thema Verhörmethoden zu halten. Und Sprudel war angereist.
Wegen einer Vortragsreihe!
Fanni musste lächeln.
Im vergangenen Jahr war Sprudel bereits dreimal von Levanto an der italienischen Riviera, wo er seit seiner Pensionierung lebte, nach Niederbayern gereist.
Aber nicht wegen einer Vortragsreihe, sondern wegen ihr.
Seit sie beide zusammen den Mord an Mirza Klein in Erlenweiler aufgeklärt hatten, verband Fanni und Sprudel eine enge Freundschaft. Tatsächlich war es viel mehr als eine Freundschaft.
Fanni wusste, dass Sprudel mit weit geöffneten Armen in der Tür seines Hauses in Levanto stehen würde, falls sie sich je dazu entschließen sollte, ihren Mann Hans Rot zu verlassen, um fast tausend Kilometer von ihren Kindern und Enkeln entfernt zu leben. Was Fanni nicht recht wusste, war, ob es klug wäre, die ihr so wertvolle Freundschaft mit Sprudel zugunsten einer Beziehung mit ihm aufzugeben.
Die Entscheidung darüber musste aufgeschoben werden – auf morgen, auf nächste Woche, nächstes Jahr.
Im Moment zählte nur, dass Sprudel hier war und mindestens zehn Tage bleiben würde.
Er hatte sich im Hotel Zur Waldbahn in Zwiesel ein Zimmer gemietet. Fanni hatte lauthals lachen müssen, als er es ihr erzählte. »Keine fünfzig Meter von deinem Hotel entfernt steht das Zwiesler Gymnasium«, hatte sie gerufen, »dort hab ich meine Abiturprüfungen geschrieben. Nicht besonders gut, zugegeben.«
»Ich muss gehen«, sagte Fanni jetzt.
Sprudel nickte. »Ich rede mit Hofer. Er wird nicht auf einer persönlichen Aussage von dir bestehen.«
Fanni erhob sich, und Sprudel stand ebenfalls auf. Er begleitete sie das felsige Stück bis zur Hütte hinunter, drückte sie zum Abschied an sich, ließ sie aber sogleich wieder los.
Fanni wohnte an diesem Wochenende ebenfalls in einem Hotel.
Der Schützenverein von Bayrisch Eisenstein feierte Jubiläum und hatte seine wichtigsten Kontrahenten dazu eingeladen. Auf dem Programm standen für den Samstagabend ein kalt-warmes Abendbüfett zu den Klängen einer Tanzkapelle, für den Sonntag diverse Wettkämpfe und ein abschließendes Abendessen.
Schon vor Wochen hatte
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