Honigmilch
Bäckerssohn, der er war.
»Matyáš«, flüsterte sie entsetzt. Es war deutlich zu sehen, dass sie glaubte, er wolle sie erschießen.
Irina drehte sich um und stürzte davon.
Matyáš rief ihr nach.
Irina rannte.
Er hörte sie im Dickicht auf der rechten Höllbachseite rumoren.
Matyáš hängte sich den Stutzen um und versuchte, ihr zu folgen. Er durchkämmte das Dickicht bis hinunter zur Höllbachschwelle.
Irina fand er nicht mehr. Darum glaubte er, sie sei ihm entwischt und längst wieder zur Waldhausalm zurückgekehrt.
Er hatte es vermasselt.
Das schlug die zweite Bresche.
Noch am selben Abend verscherbelte er den Stutzen. Dann verkroch er sich in sein tristes Zimmerchen. Dort sagte er sich, dass er nach Hause zurückkehren sollte, um zu tun, was Alena ihm geraten hatte. Aber er brachte es nicht fertig.
Weil seine Barschaft knapp wurde, fragte er nach Gelegenheitsjobs herum und hatte Glück. Der Geschäftsführer des Spielcasinos suchte Ersatz für seinen Hausmeister, der mit Gallenkolik im Krankenhaus lag.
Matyáš fegte die Eingangstreppe und den Vorplatz und behielt nebenbei das Haus schräg vis-à-vis im Auge.
Weder Irina noch der BMW tauchten während der folgenden Tage auf.
Am Samstag bekam Matyáš eine Zeitung zu Gesicht, die ein Bild von ihr zeigte mit der Überschrift: »Im Höllbach ertrunken«.
Das zertrümmerte Matyáš’ Gutmütigkeit. Als er am Sonntag den BMW in einem Seitengässchen parken sah, holte er den Vorschlaghammer aus dem Werkzeugschuppen des Casinos.
Matyáš wusste nicht mehr, was er eigentlich fühlte: Wut? Trauer? Scham? Entsetzen? Es war wohl eine Mischung aus allem.
Eine Woche lang wechselte er im Casino Glühbirnen, reinigte verstopfte Abflüsse, säuberte bemooste Wegplatten und wurde sich langsam darüber klar, dass er wieder halbwegs der Alte werden musste, um nach Hause zurückkehren und endlich tun zu können, was ihm Alena schon vor Wochen geraten hatte.
Am Freitag, den 3. Oktober, stand Matyáš auf einer Leiter, die er an den Seitenbalkon des Casinos gelehnt hatte, und schlug zerbrochene Ziegel aus einer Säule, um sie durch neue zu ersetzen.
Er hatte soeben einen scharfkantigen halben Ziegel herausgeschlagen, als er den weißen BMW am Straßenrand halten sah. Ein junger Kerl stieg aus und ging pfeifend auf das Haus zu, in dem Irina ihre Wohnung gehabt hatte.
Ohne sich bewusst zu sein, was er da eigentlich tat, holte Matyáš aus und warf den Ziegel. Er hatte auf den Kopf des Mannes gezielt. Und getroffen.
Der Mann brach zusammen.
Im gleichen Moment stürzte eine junge Frau aus dem Haus vis-à-vis und warf sich über den Verletzten. »Jonas, was ist passiert?«
Da begriff Matyáš blitzartig, dass der BMW nie Irinas wegen vor dem Haus gestanden hatte.
Das stellte seine Gutmütigkeit wieder her.
Er lief hin, beugte sich ebenfalls über den jungen Mann, und nun erkannte er ihn. Es war Jonas, der Sohn von Böckl, dem Jäger.
»Wir müssen was tun!«, schrie die Frau, die wie Matyáš annehmen durfte, Eva Kosak hieß.
»Ich bringe ihn ins Krankenhaus nach Zwiesel«, bot er an und half Jonas auf die Beine und fuhr mit ihm davon.
Zwei Stunden später kehrte er nach Zelezná Ruda zurück, räumte die Leiter weg, kündigte beim Geschäftsführer des Casinos seinen Job und fuhr auf direktem Weg zu Alena und erzählte ihr alles.
Nachdem er geendet hatte, schlug sie das Kreuzzeichen, murmelte vor sich hin, bekreuzigte sich wieder. Nach einer Weile stand sie auf, holte Fannis Büchereiausweis aus ihrer Kommode, deutete auf die Anschrift, die draufstand, und sagte:
»Geh nicht zu Polizei. Fahr dorthin, erzähl ihr, was mir erzählt. Winzige Fanni Rot klüger als aufgeblasene Polizei.«
Fanni stand am Fenster und starrte hinaus. Matyáš saß vor einem Glas Wasser und hatte das Gesicht in den Händen vergraben.
Nun ist es doch ein Dämon gewesen, der Irina am Höllbach aufgelauert hat, dachte Fanni. Ein Dämon mit einer Büchse, die – eingewickelt in das schwarze Tuch – seit zwei Wochen bei uns im Keller liegt.
Hans Rot hatte vergessen, sie Böckl zu geben.
Aber Irina, sinnierte Fanni weiter, fürchtete sich gar nicht vor Dämonen. Sie fürchtete sich vor Matyáš Labém, den sie hinter der Maskerade erkannte. Irina nahm an, Matyáš wolle sie erschießen, aus Zorn, aus blanker Wut darüber, dass sie ihn wieder und wieder abgewiesen hatte.
Durchaus logisch, sagte sich Fanni, durchaus einleuchtend und durchaus falsch. Irinas Verderben war
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