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Honigmilch

Honigmilch

Titel: Honigmilch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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interessante …«
    Fannis Blick wurde stechend, deshalb fuhr Sprudel schleunigst fort: »Annabel ist am Sonntag gegen dreizehn Uhr dreißig durch einen Genickbruch zu Tode gekommen. Sie starb innerhalb weniger Sekunden und vermutlich ohne einen Laut.«
    Fanni nickte ungeduldig.
    »Hätte Annabel den vergangenen Sonntag überlebt«, sprach Sprudel weiter, »dann wäre sie vielleicht in einigen Wochen an Kinderlähmung gestorben.«
    Er machte eine Pause. Offenbar wollte er warten, bis Fanni die Information verdaut hatte. Das nahm allerdings einige Zeit in Anspruch.
    Inzwischen waren sie beim Waldschmidthaus angekommen, das eine halbe Marschstunde unter dem Gipfel des großen Rachel lag. An Werktagen wie diesen wirkte es verlassen. Fanni ließ sich auf eine Bank an der Hausmauer fallen.
    »Die Kinderlähmung ist ausgerottet«, keuchte sie.
    »Offensichtlich nicht«, antwortete Sprudel. »In Annabels Speichel fanden sich haufenweise Poliomyelitisviren vom Typ Brunhilde. Sie muss bereits unter typischen Symptomen gelitten haben: Fieber, Nackensteifigkeit, Gliederschmerzen.«
    Fanni schüttelte den Kopf. »Kann gar nicht sein«, sagte sie. »Heutzutage ist doch jeder gegen Kinderlähmung geimpft. Schluckimpfung! Da mussten wir in der Schule ausnahmslos antreten, erinnerst du dich nicht?«
    »Ich erinnere mich sehr gut«, sagte Sprudel, »aber obwohl wir ausnahmslos antraten, konnte niemand dazu gezwungen werden, seine Kinder impfen zu lassen. Damals nicht und später ebenso wenig. Annabel hatte überhaupt keinen Impfschutz, weil sich ihre Eltern dagegen entschieden haben. Masern, Mumps und Keuchhusten hat sie alles durchgemacht. Mumps erst vor ein paar Monaten.«
    »Trotzdem«, insistierte Fanni, »das Poliomyelitisvirus ist wegen der konsequenten Impfkampagnen nahezu ausgestorben. Wie soll sich Annabel Scheichenzuber mit dem Erreger infiziert haben?«
    »Spielt das denn eine Rolle?«, fragte Sprudel. »Wir haben ein Gewaltverbrechen aufzuklären. Für Epidemiologie ist die WHO zuständig.«
    »Und wenn beides zusammenhängt?«, murmelte Fanni.
    Offensichtlich dachte Sprudel darüber nach, während sie die letzte Etappe zum Gipfel in Angriff nahmen. Auf dem Plateau unter den Felstrümmern, die den Gipfelaufbau bildeten, blieb er neben dem Bergwachthäuschen stehen und sagte: »Ich kann nicht das kleinste, fadenscheinigste Bindeglied entdecken.«
    »Ich auch nicht«, gab Fanni zu. »Trotzdem, wir sollten das Virus im Auge behalten. Es gefällt mir nicht.«
    Sprudel zog die Stirn in Falten. »Wie sieht es denn aus?«, fragte er und begann über die Felsen zum Gipfelkreuz zu klettern.
    »Du weißt, was ich meine«, regte sich Fanni auf. »Und ich habe keine Ahnung, wie es aussieht. Wer sein Biologiestudium vorzeitig abbricht, so wie ich das vorzeiten gemacht habe, der bleibt ein ewiger Laie.«
    Fanni hatte Sprudel bisher nicht verraten, dass sie in den Siebzigern ihre akademische Ausbildung, kaum begonnen, auch schon wieder beendet hatte, weil sie von einem der Professoren schwanger geworden war. Kurzerhand hatte sie damals Hans Rot geheiratet, damit ihre Affäre verborgen blieb. Leni war allerdings vor einiger Zeit dahintergekommen. Nun wussten außer Fanni drei Personen davon: Leni, deren Zwillingsbruder Leo und der biologische Vater der beiden, Professor Heimeran.
    Beim Gipfelkreuz drehte sich Sprudel zu Fanni um, schloss sie in die Arme, gab ihr einen Kuss und sagte: »Berg Heil.«
    Fanni verzog das Gesicht. Sie hasste diesen Gruß. Jedes Mal, wenn sie ihn hörte, musste sie an das »Sieg Heil«-Geschrei der Nazis denken, das ihr aus Filmen und Dokumentationen hinlänglich bekannt war. »Berg Heil«, hatte Fanni einmal irgendwo gelesen, war ein ungesundes Relikt, das sich aus dieser Zeit erhalten hatte. Sie erwiderte Sprudels Kuss und sagte: »Schön hier.«
    Sprudel behielt den rechten Arm um ihre Schulter, und so standen sie und schauten in die Landschaft hinaus. Im Südosten konnte Fanni den Lusen erkennen, seinen nackten Gipfel, der wie eine Tonsur in den Baumbestand rasiert war. Im Nordosten verirrte sich ihr Blick in den Hügeln des Böhmerwaldes. Sie ließ ihn zurückwandern und an der Stelle verharren, die Sprudel im Visier hatte.
    Auf einem Abhang des Rachelberges sah sie Hunderte toter Bäume.
    »Traurig, diese Schlachtfelder, wo die Opfer liegen bleiben, bis sie vermodert sind«, sagte Fanni.
    »Natur Natur sein lassen«, antwortete Sprudel, »das ist das Motto, unter dem Nationalparks gegründet

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