Honigmilch
werden.«
»Ausgesprochen edel«, murrte Fanni. »Und dieser Leitsatz veranlasst diejenigen, die im Nationalpark das Sagen haben, den halben Baumbestand dem Borkenkäfer zum Fraß vorzuwerfen.«
»Fanni«, rügte Sprudel, »du tust gerade so, als wären die Bäume gefällt worden, um sie an die Borkenkäfer zu verfüttern. Natur Natur sein zu lassen bedeutet, die dynamischen Abläufe in den Wäldern zu schützen, nicht einzugreifen, egal, was passiert.«
»Aha«, maulte Fanni, »dem Bayerischen Wald ist der Borkenkäfer passiert, und der hat ihn schier kahl gefressen. Pech aber auch.«
Sprudel musste grinsen. Fanni konnte manchmal wirklich halsstarrig sein. Mit wohlüberlegten Argumenten war ihr jedoch gewöhnlich beizukommen.
»Schau«, sagte er, »die alten Nadelwälder sind für den Borkenkäfer sehr anfällig, besonders dann, wenn es durch Stürme zu Windbrüchen kam. Im Nationalpark überlässt man es der Natur, die Lösung für dieses Problem zu finden. Und sie tut es. Die Monokulturen sterben aus, und dafür wächst ein kräftiger Mischwald an, der Borkenkäferpopulationen schwer gedeihen lässt und somit das natürliche Gleichgewicht wiederherstellt.«
»Hm«, machte Fanni.
Sprudel verbiss sich das Lachen und wartete auf das »Trotzdem«. Es kam postwendend.
»Trotzdem«, sagte Fanni, »diese Denkweise ist rigoros. Und wo führt sie hin? Zur Doktrin Laissez aller. Keine Hilfe für die Bäume, kein Impfstoff für die Kinder.«
Sprudel seufzte. »Dahin kann sie vereinzelt führen«, gab er zu. »Wie wohl das Zauberwort heißen mag, das es uns ermöglicht, die Balance zu halten?«
»Abwägen«, schnappte Fanni, und damit befanden sie sich wieder im Gleichklang.
Vom Gipfel aus wandten sie sich nach Osten und schlugen den Pfad ein, der sie über die Rachelschachtenhäng und den Parkplatz Gfäll wieder nach Klingenbrunn Bahnhof zurückbrachte.
Sprudel ließ sich auf ein Bänkchen fallen, das neben der Übersichtstafel mit den markierten Wanderwegen stand.
»Ich hab mir eine Blase gelaufen«, stöhnte er und kramte ein Mäppchen mit der Aufschrift »Verbandszeug« aus seinem Rucksack.
Fanni setzte sich neben ihn und sah zu, wie er die wunde Stelle an seiner Ferse verklebte. Als er damit fertig war, das Erste-Hilfe-Set verstaut hatte und der Schuh wieder ordnungsgemäß an seinem Fuß saß, stützte Sprudel den Kopf in die Hand, sodass sich eine Wangenfalte über das rechte Auge schob; mit dem linken sah er Fanni an.
Sie kannte diesen Blick.
»Mir hat unsere Wanderung heute auch sehr gut gefallen«, sagte sie nach einer Weile. »Aber hier im Rachelgebiet werden wir wohl kaum etwas finden, das uns auf die Spur von demjenigen führt, der Annabel Scheichenzuber erschlagen hat.«
Sprudel nickte. »Wir sollten uns auf den Falkenstein konzentrieren.«
»Annabels Bekannten dort auf den Zahn fühlen«, fügte Fanni hinzu.
»Max dem Hüttenwirt, der blonden Heide und denen, die regelmäßig in der Schutzhütte aufkreuzen«, konkretisierte Sprudel.
»Das werden wir tun!«, entschied Fanni.
Als Fanni gegen sechs zu Hause ankam, saß Leni am Esstisch und wickelte ein Knäuel Spaghetti auf ihre Gabel. Wenn Leni allein war, kochte sie Nudeln – immer.
Hans Rot hatte bereits am Morgen angekündigt, dass er direkt vom Büro aus zu einem kürzlich eröffneten Biergarten nach Niederalteich fahren wolle. Der Chef des Kreiswehrersatzamtes hatte zu einem Imbiss eingeladen.
Fanni holte sich einen Teller und setzte sich zu ihrer Tochter.
»Schmeckt vorzüglich«, lobte Leni ihre eigene Kochkunst. »Mit Sahne und Räucherlachs – von Sonntag waren noch drei Scheiben übrig.«
Fanni begann ebenfalls, Spaghetti aufzudrehen. »Was weißt du über Kinderlähmung?«, fragte sie.
»Ausgerottet«, antwortete Leni.
»Falsch«, sagte Fanni.
Leni starrte ihre leere Gabel an. »Ich wüsste nicht, dass das Virus in letzter Zeit von sich reden gemacht hätte.«
»Und früher?«, fragte Fanni.
Leni dachte nach. »Die Kinderlähmung«, sagte sie schließlich, »gilt eigentlich seit den Sechzigern als erledigt.« Sie sah Fanni fragend an. »Wie kommst du plötzlich auf Polioinfektionen?«
»Die Tote vom Falkenstein, Annabel – ich hab dir doch gestern von ihr erzählt –, hatte eine ganze Menge von diesen Polioerregern im Blut«, antwortete Fanni.
»Ist sie deshalb …?«, begann Leni.
Fanni schüttelte den Kopf. »Sie ist totgeschlagen worden.«
»Weil sie mit Polio infiziert war?«
»Klingt eher
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