Honigmilch
sie in den zweckentfremdeten Blumenübertopf, den Fanni zumindest einmal täglich auf ihren Komposthaufen entleerte. »Ich bin zur Hochzeit eingeladen«, sagte sie grinsend.
Während sie ihr Müsli löffelten, sagte sich Fanni, dass Murphys Chaosströmung manchmal Pause machte. Doc Haller war überführt, Jonas hatte seine Lektion gelernt, Severins kriminelles Dasein als Azrael war aufgeflogen.
Alle konnten wieder ruhig schlafen.
Alle außer Fanni Rot. Die fragt sich in stillen Momenten wie diesen, wer Irina Svetla in den Tod trieb.
Fanni kam Mirza in den Sinn, ihre Nachbarin aus Tschechien, die in Fannis Vorgarten erschlagen worden war.
»Vielleicht sollte ich heute Nachmittag böhmische Golatschen backen«, sagte sie zu Leni. »Du weißt schon, diese Hefeteilchen mit Quark und Marmeladenfüllung nach Mirzas Rezept.«
Die Hefeküchlein in der Backröhre setzten einen wulstigen braunen Rand an, genau so, wie es sich gehörte. Fanni nahm sie heraus und stellte sie zum Auskühlen in den Wintergarten. Es ging auf vier Uhr nachmittags zu. Hans Rot war zum Mittagessen hier gewesen, hatte im Nudelauflauf herumgestochert und dabei von dem gebratenen Wammerl geschwärmt, das ihm abends auf der Vereinsfeier des Kegelclubs serviert werden würde. Ansonsten hatte er sich von der jovialen Seite gezeigt, die Fanni an ihm gar nicht leiden konnte.
Was kannst du denn überhaupt an ihm leiden?
Sei still!
Kurz nach eins hatte sich Hans Rot wieder zu seinem Schreibtischstuhl im Kreiswehrersatzamt aufgemacht.
Fanni setzte Teewasser auf, und wie auf Kommando kam Leni herunter: »Kann man sie schon essen?«
Leni biss in einen der Golatschen, verdrehte die Augen zum Plafond und seufzte ein genießerisches »Hhm«.
Fanni lächelte und dachte daran, wie sie Sprudel damals, kurz nach Mirzas Tod, einmal böhmische Dalken serviert hatte. Er hatte ganz genauso reagiert.
Leni schaffte es, weitere zwei Golatschen zu vertilgen, während ihr Fanni von Irina Svetlas Großmutter erzählte, die sie und Sprudel in Bergreichenstein kennengelernt hatten. Dann lehnte sie sich zurück, hielt sich den Bauch und machte: »Uff.«
»Irina hätte wirklich gute Chancen gehabt«, sagte Fanni, »auch wenn sie weder den Bäcker noch den Druckereibesitzer heiraten wollte. Sie hätte ja noch einen Beruf erlernen …«
»Das arme Mädel muss einen Knacks weggehabt haben«, entgegnete Leni. »Als Callgirl am östlichen Grenzstreifen auf einen Mann zu hoffen, der ihr die große weite Welt zu Füßen legt. Glaubte sie, deutsche und tschechische Staatsgeheimnisse in Erfahrung zu bringen und damit handeln zu können? Wollte sie eine zweite Mata Hari werden?«
Ist Mata Hari die Erste nicht eines gewaltsamen Todes …?
Der Alltag begann wieder, das Regiment zu übernehmen.
Der 2. Oktober verging mit Kochen, Waschen und Bügeln – und damit, dass Fanni vor dem dritten graute.
Fanni hasste den 3. Oktober wie sonst keinen Tag im ganzen Jahr. Das Kreiswehrersatzamt blieb natürlich auch an allen anderen Feiertagen geschlossen; Rasenmähen oder Heckenschneiden schied als Zeitvertreib wegen des damit verbundenen Lärms auch an den übrigen Feiertagen aus. Aber am Tag der Deutschen Einheit schliefen zudem sämtliche Vereinsaktivitäten.
Hans Rot hatte sich deshalb angewöhnt, im Vorgarten herumzulungern, bis sich einige Nachbarn um ihn einfanden. Dann pflegte er das Grüppchen ins Haus zu schleppen. Fanni füllte immer schon tags zuvor vorsorglich den Kühlschrank mit verschiedenen Wurst- und Käsesorten. Linzer Schnitten und Nussecken stellte sie unter Klarsichtfolie im Wintergarten bereit, denn die Gäste mussten schlimmstenfalls bis Mitternacht verpflegt werden.
In diesem Jahr saßen nachmittags um zwei sechs Nachbarn um Fannis Tisch im Esszimmer: das Ehepaar Praml, das Ehepaar Molk, Herr Weber und Herr Böckl. Fanni hatte vergeblich gehofft, dass ihr die Kreissägenstimme von Frau Praml am diesjährigen Einheitstag erspart bleiben würde. Das Ehepaar Molk kannte sie kaum; beide wohnten wochentags in einem Appartement in München, wo sie arbeiteten, und kamen nur an Wochenenden und Feiertagen nach Erlenweiler. Herr Weber würde sich nicht allzu lange halten. Für ihn hatte Hans Rot den Petziball von oben holen müssen, denn Herr Weber litt an einem Bandscheibenschaden und weigerte sich, auf Stühlen zu sitzen. Und Böckl?
»Ich dachte, Papa kann Böckl nicht leiden«, raunte Leni ihrer Mutter in der Küche zu, als sie kurz herunterkam, um sich mit
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