Honigsüßer Tod
Hubertus sich den perfekten
Beobachtungsposten eingerichtet. Zum Glück gehörten die Pergels zu der Sorte
Leute, die Einbrechern fast ihren kompletten Wohnbereich durch verglaste
Fensterfronten auf dem Präsentierteller darboten.
Der zum Garten gerichtete Teil des Wohnzimmers bestand aus einer Art
Wintergarten und ermöglichte Hummel einen hervorragenden Einblick. Bisher war
ihm nicht bewusst gewesen, dass dies ein Vorzug sein konnte. Die nachbarschaftliche
Neugier ging vorrangig von den Pergel-Bülows aus. Sie gehörten weder zu den
Alteingesessenen noch zur Erben-Fraktion des Stadtviertels. Sie waren vor noch
nicht allzu langer Zeit zugezogen und entzückt, dass die Nachbarn wie sie
selbst Lehrer waren. Von da an hatten sie es mit ihrer Hilfsbereitschaft, ihrem
Verständnis für alles und ihrer praktischen Art geschafft, zumindest in Elkes
Herz einen Platz zu finden. Hubertus hatte ihre Annäherungsversuche zunächst
leidenschaftslos über sich ergehen lassen, doch schon bald hatte er mit einer
sich bis ins Ungesunde steigernden Abneigung reagiert. Allein schon dieses
gestelzte Hochdeutsch empfand er als zutiefst unnatürlich.
Sich am Gartenzaun »Hallo« sagen, sich im Herbst den Rechen oder im
Winter den Schneebahner leihen – gerne. Doch die Nachbarn gewissermaßen als
erweiterte Familie zu betrachten, das ging ihm entschieden zu weit. Und
Hubertus war mitunter ganz schön bockig. Zumal, wenn andere Leute wie die
Pergel-Bülows eine so nervtötende Vorzeige-Ehe führten. Eigentlich konnte das
doch nicht mit rechten Dingen zugehen.
Hubertus wusste selbst nicht so recht, warum er die alte Videokamera
vom Dachboden geholt und sich mit ihr hinter dem Schlitz der fast zugezogenen,
dunklen Vorhänge postiert hatte. Warum er stattdessen nicht einfach
rübergegangen war, um Elke notfalls mit gesetzten Worten im Stil dieser
Ratgeber, die er hätte lesen sollen, zur Rückkehr zu überreden. Aber sollte er
das wirklich? Und war die Gefahr, dabei eine ausführliche Pergel-Bülowsche
Analyse ihrer Beziehung mitzubekommen, nicht doch zu groß?
Sein Kopf brummte. Mit Edelbert konnte man nicht einfach gemütlich
einen Wein trinken. Früher oder später endete das Ganze immer in einem Exzess.
Als der Regisseur davongetorkelt war, hatten die Turmuhren des
Münsters schon längst drei geschlagen. Jetzt musste es etwa 9 Uhr sein.
Klar war ihm in dieser Nacht lediglich eines geworden: der gegenüber
Burgbacher geäußerte Wunsch, der Schleier seiner Unentschlossenheit möge sich
lüften, er möge Carolin anrufen, seine Ehe beenden und fortan mit der neuen
Partnerin glücklich sein, bis dass der Tod sie scheide. Dieser Wunsch war schon
im Morgengrauen Makulatur gewesen.
Seit Elke am gestrigen Tag das Heft des Handelns in die Hand
genommen hatte, war Hubertus’ Bindung zu seiner Frau eher wieder stärker
geworden. Vielleicht lag es aber auch nur an der alkoholbedingten
Emotionalisierung, in deren Zuge er Burgbacher einige Sätze vorgejammert hatte,
für deren weinerlichen Ton er sich jetzt gehörig schämte. Hoffentlich hatte
Edelbert diese bei Tagesanbruch wieder vergessen …
Hummel warf einen Blick durch das Objektiv und war gebannt: Schon
nach wenigen Sekunden erwischte er Elke. Er zoomte sie heran, während sie mit
den Händen immer wieder durch ihre Haare fahrend und wild gestikulierend durch
das Wohnzimmer wanderte.
Immerhin: Den Tick, sich bei Nervosität die Haare zu streichen,
hatte sie von ihm. Wenigstens etwas, das sie mitgenommen hatte.
Sie würde alles ausplaudern. Oje. Sein Gewicht. Seine Eigenarten. Und
dass er schnarchte. Dass er gelegentlich unbeherrscht war. Dass sie ihn einmal
erwischt hatte, wie er ein von Schülern konfisziertes Pornoheft angeschaut
hatte. Natürlich würde sie sämtliche Geheimnisse, die es zwischen Eheleuten
gab, weitererzählen – und die Pergel-Bülows würden sie mit ernsten Mienen
ermutigen: Sehr gut, Elke. Lass es raus. Lös deine Blockaden.
Zu gerne hätte er den Ton zu ihren Lippenbewegungen und zu denen der
Nachbarn gehört, die auf der Couch saßen und offenbar nur gelegentlich etwas
erwiderten. Er konnte sich die Kommentare in etwa vorstellen: »Hubertus ist
leider nicht mit sich im Reinen. Wie oft sage ich zu Klaus-Dieter:
Klaus-Dieter, du musst dich um Hubertus kümmern. Aber das ist ja sehr schwer.
Er hat ja diese Berührungsängste, dieses Misstrauen. Das ist sicher in der
Beziehung zu seinen Eltern begründet. Wird Hubertus denn überhaupt jemals mit
sich im
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