Honigsüßer Tod
Beerdigung!«
»Die Bestattung geschah nach ihrem Willen und unseren Ritualen auf
dem Sonnenhof. Dir wollte sie ja nicht einmal sagen, dass sie krank war. Sie
hat es bei dir nicht mehr ausgehalten«, sagte Lucidus und fixierte den Bauern
mit seinen blauen Augen. »Harte Arbeit auf dem Feld. Als sie wegen der
Krankheit immer müder wurde, hast du sie nur zur Disziplin angetrieben. Und
nachdem sie bei uns war, hast du den anderen im Dorf erzählt, sie sei ins
Ausland gegangen.«
Im Gegensatz zum Bauern sprach Lucidus unverändert mit
sanfter Stimme. Dennoch trafen die Worte sein Gegenüber ins Mark. Der Bauer
machte trotz der vorgehaltenen Waffe einen Schritt auf den Sektenchef zu. Der
blieb stoisch stehen.
»Animosas Leukämie war schon weit fortgeschritten, als sie zu uns
kam. Normalerweise helfen unsere Heilungen. Wir haben alles versucht, ihr unser
geweihtes Honigelixier regelmäßig verabreicht. Für ihre sterbliche Hülle
konnten wir nichts mehr tun, aber ihre Seele hat geleuchtet. Du könntest
glücklich über ihren Weg sein. Und wie ihr Name Animosa schon sagte: sie war
sehr tapfer und mutig.«
»Des isch alles Blödsinn«, geiferte der Bauer. »Des war nit die
Animosa. Des war mei’ Erika. Und was eure selbscht zusammengebastelte Religion
betrifft: Jahwe hat zu mir g’sproche’. Ich sollt euch bestrafe’. Ich war des
Werkzeug Gottes. ›Lebe’ für Lebe’, Aug’ für Auge, Zahn für Zahn.‹ Kennsch du
die biblische Talionsformel? Es geht darum, Gleiches mit Gleichem zu vergelte’.
Nit maßlos, nit rachsüchtig, aber angemesse’. Und ihr habt sie um’bracht, also
müsst ihr sterbe’. So wahr mir Gott helfe.«
»Du, Bauer, bist es, den sein Glaube einschränkt. Viermal am Tag
kommst du hier vorbei, um zu beten. Und deshalb musste ich heute auch nur kurz
auf dich warten«, sagte Lucidus unbeeindruckt. »Doch deine Gebete kommen mir
vor wie leere Formeln, wie Körper ohne Seelen. Du legst das Alte Testament so
aus, wie es dir passt. Die Bibel sagt nicht, dass Leben mit Leben vergolten
werden soll …«
»Was weisch denn du scho’ vo’ de’ Bibel? Du hasch doch keine Ahnung
vom christliche’ Glaube.«
Brändle begann zu bluten. Das jedoch lag nicht an Lucidus und seinem
Gewehr. Thomsens Mischung aus Kaffee und Honig war dafür verantwortlich. Die
Fruchtzuckerallergie des Bauern meldete sich. Schon während seines Gangs zur
Kapelle hatte das Nasenbluten eingesetzt. Nun erneut – und außer der Honig-Unverträglichkeit
war wohl auch die Erregung dafür verantwortlich. Der Bauer hob den Kopf nach
oben, hielt sich den Ärmel gegen die Nase. Es war eine unwürdige Situation.
»Das Alte und das Neue Testament sind wichtige Meilensteine. Wir
schätzen Juden- und Christentum genau wie den Islam. Das Weiseste der
abrahamitischen Religionen findet sich bei uns ›Kindern der Sonne‹. Vergeltung
und Rache aber haben keinen Platz.« Lucidus war offenbar trotz des Gewehrs in
seiner Hand gewillt, einen theologischen Diskurs zu eröffnen.
»Ha«, sagte der Bauer verächtlich. »Und wieso richtesch du jetzt e’
Waffe auf mich?«
»Nicht aus Rache, sondern für ein höheres Ziel. Für uns bricht ein
goldenes Zeitalter an. Die Welt wird sehen, dass wir recht haben. 2031 wird diese Welt verlöschen. Bis dahin ist noch Zeit.
Für dich nicht, Bauer. Du wirst nun deine irdische Existenz aufgeben. Du
glaubst, du wirst dann vor deinem Gott stehen. Ich glaube, das Karma
entscheidet. Aber ich werde nicht darüber richten.«
Hummel und Riesle kauerten noch immer hinter der Bank.
Hatten sie eine Möglichkeit, einzugreifen? Riesle nestelte ganz behutsam nach
dem Handy in seiner Jackentasche. Vergebene Liebesmüh. Es war paradox:
Ausgerechnet dieses von dem Bauern so schützenswert empfundene Funkloch verhinderte,
dass sie einen Notruf absetzen konnten. Sollte sich vielleicht einer von beiden
wegstehlen, um Hilfe zu holen? Es war so still, dass man jede Biene hätte
summen hören. Hummel verfluchte Riesles detektivische Neugier und seine eigene.
Sobald es ging, würde er vorsichtig rückwärts aus der Gefahrenzone schleichen.
Die Hoffnung, dass hier jemand anders zufällig vorbeikam, war nicht sehr groß.
Die Kapelle lag seit Jahren abseits von sämtlichen offiziellen Wanderwegen – und Lucidus wusste das, sonst hätte er wohl größere Eile gehabt.
Der alte Bauer hatte verständlicherweise ebenfalls keine Eile. Er
schien aber auch nicht von Todesfurcht gepeinigt, sondern eher gefasst und
gesprächiger als
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