Honky Tonk Pirates - Das vergessene Volk - Band 2
krochen die ersten Nebelschwaden über das Wasser und umwebten am frühen Morgen das Schiff. Der Rochen sah aus, als wären seine Segel aus klamm-feuchtem Rauch, als wär er nur noch der Geist eines Schiffes, und auch
als die Sonne den gespenstischen Nebel bis Mittag auflöste, blieb die Stimmung an Bord gedrückt. Der Wind flaute ab und eine kaum spürbare Strömung zog den Rochen nach Westen. Jo fröstelte beim Anblick der grünweißen Wolke, die dort auf sie wartete. Er saß in der Sonne, die auf ihn herabbrannte, und hatte sich trotzdem in zwei Decken gerollt. Den andern an Bord ging es nicht besser.Will sah die Gänsehaut, die zuerst seine Arme, dann seine Beine und schließlich seinen ganzen Körper befiel, und die Triple Twins hingen reglos über ihm in den Masten. Sie stießen bei jedem Atemzug Rauchwolken aus, die wirkten, als kehrte der Nebel aus ihren Mündern wieder zurück. Hannah stand schweigend hinter dem Steuer. Sie ahnte etwas, was sie nicht wahrhaben wollte, und spätestens als sie zu Moses schaute, wurde diese Ahnung Gewissheit. Der Chevalier du Soleil wurde von Nervosität fast zerfressen. Er schwitzte als Einziger und lief wie ein Tiger an Bord auf und ab, vom Bug zum Heck und über die Brücke die geschwungene Treppe zu den Kajüten hinauf und wieder hinab unter Deck, wo die Geschütze des Rochens ruhten.
»Wovor haben wir Angst?«, rief Jo verzweifelt.
Doch er bekam keine Antwort und alle sahen nur zu, wie ihm der fetteste Regentropfen der Welt auf seine Nase fiel. »Guckt doch! Der Nebel! Jetzt ist er da!«, flüsterte Jo und zeigte nach oben. »Er hängt über uns. Seht ihr, da!«
Sie sahen es alle. Der Nebel kratzte schon an den Masten und die Sonne war nur noch ein gleißender Fleck. Das Blau des Himmels verfärbte sich grün. Der letzte Windhauch verebbte und nahm - bis auf den Ton des Herzschlags in den eigenen Ohren - alle Geräusche mit sich mit.
»Hey, Moses!«, rief Hannah wie durch Watte hindurch, als er
auf seinem Weg von den Kanonen zu den Kajüten wieder an ihr vorbeilaufen wollte. »Erzähl uns doch etwas über das verheißene Land. Erzähl uns etwas über die vergessene Insel.«
Der Chevalier blieb stehen und starrte sie an.
»Komm schon«, bat ihn Hannah mit ihrem bezaubernden Lächeln. »Erzähl uns, wie schön es da ist.«
Will ballte die Fäuste. Und Moses, der sah, wie die Wut in Will zu kochen begann, flüsterte fiebrig: »Ja, das wird uns helfen.«
Jo blickte skeptisch zu den Masten hinauf. Die waren schon halb im Nebel verschwunden. »Na, das hoffe ich, Mo!«, betete er und nahm es regungslos hin, als ihm der dritte Tropfen auf die Nase platschte.
»Nein, Jo«, lächelte Moses. »Das ist wirklich so, weißt du, und dir wird es am besten gefallen. Die Insel ist alles, wovon du träumst. Aber sie hat auch alles, was du willst, Will. Und du, Hannah, und ihr, ihr tapferen Mädchen.« Er hob seinen Blick zu den Triple Twins. Die standen als Schemen im sinkenden Nebel. »Die Insel ist unberührt. So wie Gott sie erschaffen hat, und der Mensch hat sie bisher noch kein bisschen verändert. Es gibt keinen Hass, keinen Neid, keine Missgunst. Es gibt weder Gier noch den Hunger nach Macht. Es gibt keine Lüge, denn alles ist ehrlich: jeder Stein, jede Pflanze, jedes Tier, jedes Wesen. Ja, alles, was dort existiert, ist makellos rein. Und jetzt stellt euch vor, wie so eine Insel aussehen kann. Vergesst diesen Nebel und stellt es euch vor.« Er schloss seine Augen: »Seht ihr das Wasser? Es leuchtet und glänzt wie kristallklare Jade.«
»Wie Wolken aus Licht, die Schuhe von Chen, aus dem chinesischen Turm. Waren die wunderbar …«, flüsterte Hannah und Will sah die Augen, die sich unter ihren geschlossenen Lidern bewegten, als würde sie träumen.
»Und, seht ihr den Strand?«, schwärmte Moses Kahiki. »Er erstreckt sich wie ein goldenes Band um die Insel herum.«
»Ja«, nickte Jo, »und die ist ganz flach, bis auf die Mitte. Da ist ein Berg, wie ein großer Zylinder: ein Turm, der von Urwald bewachsen ist.«
»Ja«, nickte Moses. »So sieht sie aus.« Er lächelte glücklich.
Will konnte es sehen, denn er hatte als Einziger die Augen geöffnet. Längst stand er bei Hannah und nutzte die Gelegenheit, um den Beutel mit den vier silbernen Krebsen von ihrem Gürtel zu lösen.
»An keinem Ort dieser Welt ist es schöner als dort«, schwärmte Moses Kahiki. »Das werdet ihr sehen.«
»Ja, aber nur, wenn ich euch dort hinbringe, Mo.« Wills Stimme klang kalt und sie
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