Honor Harrington 19. Der Schatten von Saganami
musste, dass noch jemand ihren Zufluchtsort kannte. Und nicht nur irgendjemand.
Paulo d'Arezzo hob den Kopf, als die Luke sich öffnete und er Helens ansichtig wurde. Er richtete sich kerzengerade auf. Ein eigentümlicher Ausdruck zuckte durch sein allzu hübsches Gesicht - ein Gewirr von Gefühlen, das zu rasch verschwunden und zu kompliziert war, als dass Helen es entziffern konnte. Überraschung spielte offensichtlich hinein. Und Enttäuschung - vermutlich ein Spiegelbild ihres Zorns -, weil er wie sie geglaubt hatte, niemand sonst habe die Zuflucht bisher entdeckt. Doch da war noch etwas. Etwas Finstereres, Kälteres.
Schwarz, anhaftend und bitter wie Gift, tanzte es knapp außerhalb des Begreifens oder Erkennens.
Worum immer es sich handelte, es verschwand so rasch, wie es gekommen war, ersetzt von dem vertrauten, maskengleichen Gesicht, das Helen gründlich verabscheute.
»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, sagte sie steif. »Ich hatte nicht bemerkt, dass die Abteilung besetzt ist.«
»Schon gut.« Auch er klang steif, ein wenig gekünstelt. »Ich bin für heute sowieso so gut wie fertig.« Er wandte sich halb ab und nahm etwas auf. Seine Bewegungen wirkten eilig, etwas zu schnell, und fast gegen ihren Willen kam Helen ein Stück in den kleinen Raum und spähte d'Arezzo über die Schulter.
Es war ein Skizzenblock. Kein elektronischer, sondern ein altmodisches Ding aus Papier mit rauer Oberfläche für ebenso altmodische Bleistifte oder Pastellkreiden oder Zeichenkohle. Catherine Montaigne benutzte manchmal einen ähnlichen Block, bestand aber darauf, nichts weiter zu sein als eine Dilettantin. Cathy hatte gewiss keine künstlerische Ausbildung genossen, und ihre Arbeit hielt professionellen Standards nicht stand, aber sie vermittelte etwas. Einen Eindruck. Den Eindruck ... zu interpretieren. Etwas. Helen verfügte nicht über die Bildung, die sie gebraucht hätte, um zu beschreiben, was dieses Etwas war, aber sie erkannte es, wenn sie es vor sich sah.
Und als ihr Blick auf Paulos Block fiel, erkannte sie dieses gewisse Etwas. Sie sah den zerschmetterten Hammerkopf der Anhur, wie er sich vor Nuncio B abhob, umgeben von Wrackteilen und Verwüstung. Die Komposition arbeitete mit starken Kontrasten: Graphit auf Papier, schwärzester Schatten und gnadenloses, strahlendes Licht, gezackte Kanten und die grausige Schönheit von Sonnenlicht auf zerfetztem Panzerstahl. Irgendwie vermittelten die Bilder nicht nur zersplitterte Plattierung und Rumpftrümmer. Sie vermittelten die Gewalt, die sie erzeugt hatte, das Wissen des Künstlers um Schmerz, Tod und Blut, die in diesem fragmentierten Rumpf Hof hielten. Und die Verheißung, dass mit dem Anblick dieser Schrecken der Verlust einer kostbaren Unschuld einherging, einer Jungfräulichkeit geradezu.
Als Paulo d'Arezzo hörte, wie sie die Luft einsog, sah er Helen über seine Schulter hinweg an, und sein Gesicht verlor jeden Ausdruck. Er streckte rasch die Hand vor und schlug den Deckel des Blocks zu, fast als schämte er sich, dass sie seine Zeichnung gesehen hatte. Den Kopf leicht gesenkt, wandte er die Augen von ihr ab und stopfte den Block in die Mappe, mit der Helen ihn oft gesehen hatte, ohne sich je zu fragen, was sich darin befinden mochte.
»'tschuldigung«, brummte d'Arezzo und wollte sich an ihr vorbei zur Luke schieben.
»Warte.« Ihre Hand hatte sich um seinen Ellbogen geschlossen, ehe Helen noch wusste, dass sie ihn ansprechen würde. Er blieb auf der Stelle stehen und sah die Hand vielleicht eine Sekunde lang an, dann hob er den Blick zu ihrem Gesicht.
»Warum?«, fragte er.
»Weil ...« Helen hielt inne, denn ihr wurde plötzlich klar, dass sie die Antwort auf diese Frage nicht kannte. Sie setzte an, ihren Griff zu lösen, sich zu entschuldigen und ihn gehen zu lassen. Da aber sah sie in diese grauen, reservierten Augen, und sie waren gar nicht mehr reserviert. In ihnen stand eine Finsternis, die gleiche Finsternis, begriff Helen, die sie hierher geführt hatte, damit sie nachdenken und allein sein konnte. Es lag jedoch noch der Unterton von etwas anderem in diesen Augen.
Einsamkeit, dachte sie verwundert. Vielleicht sogar . Angst?
»Weil ich mit dir reden möchte«, sagte sie und war erstaunt, weil es die Wahrheit war.
»Worüber?« Aus seiner tiefen, volltönenden Stimme sprach wieder die vertraute Reserve. Er war weder grob noch abweisend, aber er strahlte eine unverkennbare Distanz aus. Helen empfand eine ebenso vertraute
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