Honor Harrington 19. Der Schatten von Saganami
Verärgerung, aber diesmal hatte sie seine Augen gesehen, und seine Skizze. Sie begriff, dass an Paulo d'Arezzo mehr war, als sie je hatte sehen wollen, und bei dieser Erkenntnis durchfuhr sie ein dumpfes Schamgefühl.
»Über den Grund, weshalb du hier bist.« Sie wies mit der freien Hand in die stille, halbdunkle Kuppel. »Über den Grund, weshalb ich hier bin.«
Einen Moment lang glaubte sie, er wollte sich losreißen und weggehen. Dann zuckte er mit den Schultern.
»Ich komme zum Nachdenken her.«
»Ich auch.« Sie lächelte schief. »So eine Stelle ist nicht so leicht zu finden, was?«
»Wenn man dabei allein sein möchte«, stimmte er ihr zu. Es hätte eine spitze Anmerkung sein können, dass sie ihn in seinem Alleinsein gestört habe, aber so war es nicht. Er blickte zu den Stecknadelköpfen der Sterne, und sein Gesicht wurde weich. »Ich glaube, im ganzen Schiff gibt es kein friedlicheres Fleckchen«, sagte er leise.
»Jedenfalls habe ich nichts Friedlicheres finden können«, stimmte sie zu. Sie wies auf den Sessel, in dem er gesessen hatte, als sie eintrat. Er blickte ihn an, hob die Schultern und setzte sich wieder. Helen nahm im anderen Sessel Platz und wandte sich damit d'Arezzo zu.
»Es lässt dich nicht los, oder?« Sie wies mit der Hand auf die Tasche mit dem Skizzenblock. »Was wir an Bord der Anhur gesehen haben - das macht dir genauso sehr zu schaffen wie mir, oder?«
»Ja.« Er sah von ihr fort in die friedliche Schwärze. »Ja, so ist es.«
»Möchtest du darüber reden?«
Er warf ihr einen erstaunten Blick zu, und Helen fragte sich, ob er ebenfalls an ihr Gespräch mit Aikawa im Kakerlakennest dachte.
»Ich weiß es nicht«, sagte er nach kurzem Zögern. »Ich habe es eigentlich noch nicht einmal für mich selbst formulieren können, geschweige denn für jemand anderen.«
»Ich auch nicht«, gab sie zu, und nun wandte sie den Blick zu den Sternen. »Es war . furchtbar. Entsetzlich. Und trotzdem ...« Ihre Stimme versiegte, und sie schüttelte langsam den Kopf.
»Und trotzdem hatten wir dieses schreckliche Triumphgefühl, nicht wahr?« Seine leise Frage zog ihren Blick wieder auf sich, als wäre er magnetisch. »Dieses Gefühl, gewonnen zu haben. Bewiesen zu haben, dass wir schneller sind, härter ... raffinierter. Besser als sie.«
»Ja.« Sie nickte bedächtig. »Das Gefühl hatten wir wohl. Und vielleicht sollten wir es sogar empfinden. Wir waren wirklich schneller und härter - wenigstens diesmal. Und wir sind der Navy beigetreten, um genau solche Leute aufzuhalten. Sollen wir denn keinen Triumph empfinden, keinen Sieg, wenn wir Mörder, Vergewaltiger und Folterer ein für allemal daran hindern, einem anderen Menschen etwas zuleide zu tun?«
»Vielleicht.« Seine Nasenflügel bebten, als er tief Luft holte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, kein Vielleicht. Du hast recht. Und es ist auch nicht so, als hätten du oder ich die Befehle erteilt oder die Waffen abgefeuert. Diesmal waren wir es nicht. Die Wahrheit ist jedoch, wenn man zu Ende denkt: So schlechte Menschen sie auch waren - und ich sage dir, sie waren schlecht, ganz egal, wie man den Begriff definiert, sie entsprechen jeder Beschreibung des Schlechten -, sie waren trotzdem Menschen. Ich habe gesehen, was ihnen widerfahren ist, und meine Phantasie reicht zumindest so weit, dass ich mir vorstellen kann, wie es in dem Augenblick gewesen sein muss, als es geschah. Und niemand sollte einen Triumph empfinden, weil er jemand anderem so etwas angetan hat, ganz gleich, wie sehr dieser das verdient hat. Niemand sollte es . aber ich tue es. Was sagt das über mich aus?«
»Hast du Skrupel, die Uniform zu tragen?«, fragte sie geradezu sanft.
»Nein.« Er schüttelte wieder fest den Kopf. »Wie ich schon sagte, als wir mit den anderen sprachen: Ich bin deswegen zur Navy gekommen, und ich habe keine Skrupel, meine Pflicht zu tun und solche Leute aufzuhalten. Nicht einmal, auf Leute in anderen Navys zu schießen - sie zu töten -, die genauso sind wie du und ich, die auch nur ihre Pflicht tun. Ich glaube nicht, dass es mir um das Töten an sich geht. Ich glaube, es ist die Tatsache, dass ich mir ansehen kann, wie schrecklich es war, und mich dafür verantwortlich fühlen kann, ohne Schuld zu empfinden. Fehlt mir da nicht etwas? Ich mag nicht daran denken, dass ich dazu beigetragen habe, anderen Menschen so etwas zuzufügen, und ich bedaure, dass es geschehen musste, aber ich fühle mich nicht schuldig, Helen. Ich bin
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