Huckleberry Finns Abenteuer und Fahrten (German Edition)
Rocktasche; Tante Sally ließ ebenfalls lange auf sich warten, und als sie endlich kam, war sie ganz erhitzt und sah rot und zornig aus. Sie konnte kaum abwarten, bis das Gebet vorüber war, dann schenkte sie mit einer Hand den Kaffee ein und trommelte mit ihrem Fingerhut an der anderen Hand auf dem Kopf des ihr zunächst sitzenden Kindes herum und sprach zu Onkel Silas: »Ich hab' das ganze Haus durchsucht, vom Speicher bis zum Keller, und wahrhaftig, es geht über meinen Horizont, aber ich kann und kann dein zweites Hemd nicht finden!«
Plumps, da fiel mir das Herz in die Hosen und noch tiefer, und ein Stück Brotkrume rutschte die Gurgel hinunter und begegnete unterwegs einem gewaltigen Husten, der's wieder rückwärts trieb, gerade über den Tisch, einem der Kinder ins Auge. Das krümmte sich wie ein Wurm und stieß das reinste indianische Kriegsgeheul aus, und Tom verfärbte sich ganz grünlich, und eine Minute lang schien uns allen der Atem stillzustehen. Dann ging's wieder besser, es war nur die Überraschung, die uns so mitspielte und uns ordentlich den kalten Schweiß austrieb.
Onkel Silas überlegte ein wenig, fingerte an sich herum und sagte dann: »Das ist aber doch wirklich merkwürdig, das begreif ich nicht. Ich weiß gewiß, daß ich's ausgezogen habe, weil ...«
»Natürlich, weil du nur eins anhast! Hör einen den Mann! Ich weiß wohl, daß du's ausgezogen hast, besser als du mit deinem Sieb von Gedächtnis, weil's gestern noch auf der Leine war und ich's dort selbst gesehen habe! Weg ist's aber, soviel ist gewiß, und du mußt eben dein rotes Flanellhemd anziehen, bis ich Zeit habe, ein neues zu nähen. Das ist dann schon das dritte, das ich in den letzten zwei Jahren mache. Wahrhaftig, du könntest einer ganzen Armee von Näherinnen zu tun geben mit deinen Hemden! Und wie du es machst, daß sie dir wegkommen, ist mir ein wahres Rätsel! Man sollte doch denken, in deinem Alter hättest du endlich gelernt, auf deine Hemden aufzupassen!«
»Ja, ja, Sally, ich weiß es, aber siehst du, so ganz allein mein Fehler ist's doch auch nicht, denn ich hab' doch eigentlich nichts mit den Hemden zu tun, sobald ich sie nicht mehr auf dem Leib habe, und vom Leib herunter hab' ich doch, glaub' ich, noch keins verloren!«
»Na, dein Verdienst ist das nicht, Silas, das brächtest du auch noch fertig, wenn's möglich wäre! Und das Hemd ist's noch gar nicht allein, was fehlt, nein, es fehlt auch ein Löffel. Zehn waren's, und neun sind's nur noch, einer ist weg. Wenn das Kalb das Hemd gefressen hat, wie sie mir vormachen wollen – den Löffel hat's doch sicher nicht mit verschluckt! Soviel ist sicher!«
»Fehlt sonst noch was?«
»Ja, noch was! Sechs Talglichter; das ist doch was, denke ich. Die könnten die Ratten gefressen haben, das wär' möglich, wahrhaftig, es ist ja ein Wunder, daß sie noch nicht das ganze Haus verschluckt haben, du kümmerst dich ja keinen Pfifferling drum, Silas, ob ihre Löcher verstopft sind oder nicht. Sie könnten in deinen Haaren nisten, dir wär's einerlei, ich glaub', du merktest gar nichts davon. Das Verschwinden des Löffels aber kann man auch den Ratten nicht in die Schuhe schieben, das ist doch klar!«
»Ja, Sally, du hast recht, das hab' ich wirklich versäumt, aber ich versprech' dir, daß ich noch vor heut' abend die Löcher alle selbst zustopfe, und ordentlich!«
»Oh, es hat ja keine Eile, nächstes Jahr ist auch noch Zeit!«
Plumps fällt der Fingerhut hörbar auf den Schädel eines Sprößlings, und heulend zieht der die Finger aus der Zuckerdose zurück, in der sie herumgekrabbelt sind. Da erscheint Liese, die Niggerfrau, die die Hausarbeit besorgt, unter der Türe: »Frau, es fehlt auch eine Bettuch!«
»Ein Bettuch? Herr, du mein Gott!«
»Jetzt stopf ich aber gleich die Rattenlöcher zu!« seufzt Onkel Silas und sieht sehr reuig und bekümmert aus.
»Oh, schweig still!« fährt Tante Sally auf ihn los, »denkst du denn vielleicht, die Ratten hätten das Bettuch verzehrt? Wo mag das Bettuch sein, Liese?«
»Ojemine! Liese das nix wissen! Waren auf der Leine gestern, sein weg heute – ganz, ganz weg!«
»Wahrhaftig, ich glaub', die Welt geht unter! So was hab' ich noch nicht erlebt, solang mich die Sonne bescheint! Ein Hemd und ein Bettuch und ein Löffel und sechs Talglich...«
»Kann den Messingleuchter nicht finden!« schreit eine kleine halbwüchsige Range und stürzt wie toll ins Zimmer. – »Willstwohl machen, daß du hinauskommst, du Balg? Marsch
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