Wes - Wächter der Nacht
1. KAPITEL
B rittany Evans verabscheute es, zu spät zu kommen. Aber die Parkplatzsuche gestaltete sich schwierig, und schon vorher hatte sie viel zu lange gebraucht, um sich zu entscheiden, was sie anziehen sollte. Als ob das eine Rolle spielte …
Sie trat aus der Tür, die von den Umkleideräumen des College-Baseballstadions aufs Spielfeld führte, und ließ den Blick über die Leute am Hotdogstand schweifen.
Da stand er.
Unter dem Vordach, gegen den Nieselregen geschützt, lehnte er mit dem Rücken zu ihr an der Wand und schaute den Spielern auf dem Spielfeld zu.
Zumindest glaubte sie, dass er es war. Sie waren sich noch nie begegnet. Halt, doch, ein Mal. Aber da hatten sie sich höchstens zweieinhalb Sekunden gesehen. Brittany, darf ich vorstellen, Wes Skelly – die Rangbezeichnung war ihr sofort wieder entfallen. Wes, das ist Melody Jones’ Schwester Britt.
Hallo, wie geht’s. Nett, Sie kennenzulernen. Ich muss weg.
Der Mann, der vielleicht oder vielleicht auch nicht Wes Skelly war, warf einen Blick auf seine Uhr und schaute dann hinüber zum Haupteingang des Stadions. Seine Haare waren länger und heller, als sie es in Erinnerung hatte. Wobei man wohl kaum einer Erinnerung trauen konnte, die sich auf eine Begegnung von kaum zweieinhalb Sekunden Dauer stützte.
Er drehte sich leicht; jetzt konnte sie sein Gesicht besser sehen. Wes lächelte nicht. Im Gegenteil. Er wirkte ein wenig angespannt, verärgert. Hoffentlich war er nicht sauer,weil sie sich verspätet hatte. Nein, vermutlich ärgerte es ihn, dass er sich überhaupt auf dieses Treffen mit ihr eingelassen hatte. Sie hatte in den letzten Jahren eine Menge über diesen Mann gehört. Wenn dieser Mann denn Wes Skelly war.
Er musste es einfach sein. Niemand sonst sah auch nur ansatzweise so aus, als könnte er ein Navy-SEAL sein.
Der Mann war etwa eins achtundsiebzig, nicht gerade groß für einen Navy-SEAL – ganz anders als ihr Schwager oder dessen guter Freund Senior Chief Harvard Becker. Aber Wesley Skelly hatte etwas an sich, das ihm den Anschein gab, zu allem fähig und vielleicht ein wenig gefährlich zu sein.
Er trug Zivilkleidung: eine kakifarbene Hose, Hemd, Krawatte und einen dunklen Blazer. Der Ärmste. Wenn man Mel glauben durfte, dann schwamm Wes lieber in haiverseuchten Gewässern herum, als sich herauszuputzen.
Andererseits ging es ihr gar nicht so viel anders. Hatte sie doch extra diese dummen hochhackigen Sandalen angezogen statt die bequemen flachen, die sie üblicherweise bevorzugte. Sogar deutlich mehr Make-up als sonst hatte sie aufgelegt.
Sie hatten sich verabredet, sich zum Spiel zu treffen und dann essen zu gehen, nicht in der örtlichen Pizzeria, sondern in ein nettes Restaurant.
Beide hatten nicht mit dem Regen gerechnet, der ihnen ihren schönen Plan verdarb.
Wes schaute schon wieder auf die Uhr und seufzte.
Und Brittany erkannte, dass er nur so unbeteiligt und gelassen tat. Er stand scheinbar still, war aber trotzdem irgendwie ständig in Bewegung, trommelte mit den Fingern, verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen,suchte in seinen Taschen nach irgendetwas, schaute auf die Uhr. Am liebsten wäre er wohl wie ein Tiger im Käfig auf und ab gewandert, aber er beherrschte sich.
Du meine Güte, so sehr hatte sie sich doch gar nicht verspätet!
Natürlich konnte es sein, dass ihre fünf Minuten gar nicht das Problem waren. Vielleicht stand dieser Mann einfach nie still. Na toll, genau das, was sie brauchte: eine Verabredung mit einem Kerl, der am Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom litt.
Im Stillen verfluchte Brittany ihre Schwester, als sie sich dem Mann näherte und ein Lächeln aufsetzte. „In Ihren Augen steht dasselbe wie in meinen: Himmlischer Vater, bewahre mich davor, Freunden und Verwandten jemals wieder einen Gefallen zu tun!“, sagte sie. „Also müssen Sie Wes Skelly sein.“
Er lachte, und dieses Lachen veränderte sein Gesicht völlig. Sämtliche harten Linien wurden weicher, und seine blauen Augen funkelten plötzlich.
Ire. Verdammt, der Mann hatte garantiert Iren unter seinen Vorfahren.
„Dann sind Sie Brittany Evans“, erwiderte er und streckte ihr seine Hand entgegen. Sie war warm, sein Händedruck fest. „Schön, Sie endlich mal kennenzulernen.“
Schöne Hände. Ein sympathisches Lächeln. Ein angenehmer, direkter Blick. Ein netter Kerl. Obendrein ein geschickter Lügner. Sie mochte ihn sofort, trotz eines möglichen ADS.
„Tut mir leid, dass ich mich ein paar Minuten
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