Huete dich vor deinem Naechsten
erkannte Linda Isabel und Jack, die langsam die Straße entlangkamen. Ihre Schwester wirkte so klein und zerbrechlich und stützte sich immer noch auf Jack. Ihre inneren und äußeren Verletzungen waren noch längst nicht verheilt. Aber irgendwann wäre es so weit. Linda würde dafür sorgen.
Sie stieß sich von der Wand ab und ging zu ihrem Mann. Sie verließen die Galerie, um mit Isabel und Jack zum Loft - das sie vorläufig halten konnten - zu gehen, zusammen zu essen und eine Sendung im Fernsehen zu verfolgen, die sie eigentlich nicht sehen wollten.
Die Kinder befanden sich bei Margie und Fred, so dass Linda und Erik Zeit für sich hatten; ein Luxus, der ihnen schmerzlich gefehlt hatte. Seit in Riverdale ein Sechzig-Zoll-Flachbildschirm, WLAN und eine Wii warteten, betrachteten Emily und Trevor einen Besuch bei den Großeltern nicht länger als Zumutung. Natürlich gab es vorher minimales Gemecker, das bei Linda minimale Schuldgefühle auslöste. Selbst wenn Emily anrief und sich beschwerte, die Oma koche Fisch und weigere sich, eine Pizza zu bestellen, bewahrte Linda die Ruhe und antwortete ihrer Tochter, Fisch sei gesünder und sie solle sich damit abfinden.
»Willst du dir die Ausstellung nicht noch einmal ansehen?«, neckte Linda ihre Schwester und umarmte sie vorsichtig, um ihr nicht wehzutun. Izzy lachte matt. Sie hatte die Ausstellung mehr als einmal besucht, sogar vor der Vernissage. Linda wartete immer noch darauf, dass der gehetzte Ausdruck von Izzys Gesicht verschwinden würde. Sie hatte ihre Schwester seit Monaten nicht mehr lächeln sehen.
Im Loft bestellte Erik chinesisches Essen und schaltete den Fernseher ein. Izzy war auf dem Weg sehr schweigsam gewesen, und Linda fürchtete, dass sie einen Fehler begingen.
»Bist du dir ganz sicher, dass das eine gute Idee ist?«, fragte sie.
»Ich finde, es ist eine äußerst schlechte Idee«, meinte Jack. »Es ist ja nicht so, dass wir irgendwas Neues erfahren würden. Warum sollte man in der Wunde bohren?«
Erik nickte zustimmend. »Er hat recht.«
»Ich will es sehen«, sagte Izzy und ließ sich aufs Sofa fallen. »Es muss sein.«
Niemand widersprach. Es war ohnehin zu spät. Die Sendung hatte angefangen.
Eine Bestsellerautorin und ihr Mann, ein Software-Entwickler, führen ein Leben wie im Traum. Ein schickes Apartment in Manhattan, ein kometenhafter beruflicher Aufstieg und ein extravaganter Lebensstil lassen scheinbar keine Wünsche offen. Außer dass bei Isabel Connelly und dem Mann, den alle als Marcus Raine kannten, nichts war, wie es schien.
»Man rief uns nach einem Dreifachmord zu der Firma Razor Technologies im West Village«, sagte der sorgfältig gekämmte Detective Grady Crowe in die Kamera. Er war geschmackvoll gekleidet und spielte die Rolle des Starermittlers gekonnt. »Wir fanden die Leichen von Rick Marino, Eileen Charlton und Ronald Falco. Das Büro war verwüstet und alle Akten und Festplatten verschwunden. Isabel Connelly lag bewusstlos im Büro ihres Mannes. Wir wussten gleich, dass wir es mit einer großen Sache zu tun hatten, aber wir ahnten nicht, dass der Fall internationale Dimensionen annehmen würde und in Verbindung zu einem ungeklärten Verbrechen stand, das Jahre zurückliegt.«
Im Laufe der folgenden Stunde wurde im Detail ausgebreitet, wie Marcus Raine von Camilla verraten wurde und verschwand, wie Kristof Ragan sich das Leben und das Geld des Ermordeten aneignete und sich Izzys Sozialversicherungsnummer erschlich, um eine neue Firma zu gründen. Ein Teil der Sendung widmete sich Kristof Ragans Kindheit in einem Waisenhaus und der großen Chance, die sich ihm in Form eines Stipendiums an einer amerikanischen Uni bot.
Er war intelligent, charmant und fleißig und hätte es auch auf legalem Weg zu etwas bringen können. Warum hat er sich für Mord, Betrug und Diebstahl entschieden?, klagte der Reporter aus dem Off, während Archivbilder des Waisenhauses in seinem heutigen Zustand über den Bildschirm flimmerten. Die Kinder saßen an Computern, spielten Fußball oder lasen. Dann wurde ein Kinderpsychologe um eine Einschätzung gebeten.
»Es ist nicht schwer zu ahnen, was ein Kind in einer solchen Situation fühlt - zu Zeiten des Kommunismus in ein Waisenheim abgeschoben, wo es möglicherweise misshandelt wird«, sagte ein gepflegt aussehender Herr mit runder Brille und roter Fliege. »Vielleicht hat er dauerhaft Schaden genommen und einen Selbsthass entwickelt sowie den Wunsch, jemand anderes zu sein. Menschen
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