Huete dich vor deinem Naechsten
aus der privaten Videokamera eines Prag-Touristen, der am frühen Morgen durch den Lärm ans Fenster gelockt worden war.
Die verwackelten Bilder zeigten den angeschossenen Kristof Ragan, der mit der Waffe in der Hand durch eine Kopfsteinpflastergasse auf einen Kanal zuhumpelte. Er stieg eine Treppe hinunter und sprang in ein Boot, steckte den Revolver ein und machte sich daran, die Leinen zu lösen. Dann kam Izzy ins Bild. Sie stand sekundenlang allein am Geländer, bis hinter ihrem Rücken Polizisten auftauchten und sie wegzerrten. Linda sah, wie ihre Schwester schrie und sich wehrte, während Kristof Ragan seine Waffe auf die Polizisten richtete und schoss.
Izzy auf dem Sofa schlug sich die Hände vors Gesicht und fing zu schluchzen an. Jack hielt sie im Arm.
»Erik, mach das aus«, bat Jack leise. Erik griff nach der Fernbedienung.
Kristof Ragan starb an Ort und Stelle. Der Reigen aus Mord und Betrug fand auf dem Prager Teufelsbach ein jähes Ende.
»Nein«, protestierte Isabel, »ich möchte das Ende sehen.«
Isabel Raine, Millionen von Lesern als Isabel Connelly bekannt, lehnte unsere Bitte um ein Interview ab. Ihr Agent und Pressesprecher Jack Mannes sagte, seine Mandantin erhole sich gerade von den erlittenen Verletzungen, außerdem unterstütze sie die laufenden Ermittlungen. Nach Abschluss des Falls wird ein Teil des gestohlenen Vermögens an Connellys Familie zurückgehen, wenn auch das meiste Geld unauffindbar bleibt.
Der Reporter schloss mit einer Phrase, die sie seit Wochen zu hören bekamen - das Leben sei verrückter als jede Fiktion. Erik schaltete den Fernseher aus, aber alle blieben noch minutenlang sitzen und starrten gedankenverloren auf den schwarzen Bildschirm.
Als es an der Tür klingelte, zuckten sie zusammen und mussten dann über sich selbst lachen.
»Das Essen«, sagte Erik und stand auf.
Während sie das Geschirr aus dem Schrank holten, den Tisch deckten und den Wein öffneten, fiel Linda auf, dass sie selbst im Schatten außergewöhnlicher Ereignisse mit den ganz banalen Alltagsdingen beschäftigt waren. Sie gingen schlafen, kümmerten sich um die Kinder, liebten sich, bestellten chinesisches Essen.
Sie und auch Erik hatten einen schrecklichen Vertrauensbruch begangen, trotzdem küsste er sie, als er ihr ein Glas Pinot Grigio in die Hand drückte. Isabel war in jederlei Hinsicht verletzt worden, trotzdem lächelte sie ironisch, als Jack meinte, die jüngste Katastrophe habe ihre Bücher in die Bestsellerlisten zurückkatapultiert. Der Mann, mit dem Linda eine Affäre gehabt, den sie gemocht und der beinahe ihr Leben zerstört hatte, war umgekommen, trotzdem sagte sie Sätze wie: »Die Suppe ist zu salzig.«
Sie schaute sich in ihrem geliebten Loft um. Es stand noch immer in den Sternen, ob sie es würden verkaufen müssen. Ein Teil des Vermögens, das Kristof Ragan vor seinem Untertauchen ins Ausland transferiert hatte, war wieder da, aber keiner konnte ihnen sagen, wann sie welche Summe erhalten würden. Dafür lief die Ausstellung gut, und die Verkäufe konnten sich sehen lassen. Außerdem hatte Isabel einen Vertrag über ein neues Buch abgeschlossen. Sie würden es schaffen. Verglichen mit dem, was sie um ein Haar verloren hätten, spielte das Geld kaum noch eine Rolle. Hauptsache, sie konnten beisammen sein und in Sicherheit und einigermaßen zufrieden leben. Sie waren beschädigt, traumatisiert und hatten keine Ahnung, was die Zukunft bringen würde, aber immerhin hatten sie noch ihre Hoffnung.
Anscheinend wusste niemand etwas zu sagen, bis Jack sein Glas hob. Die anderen taten es ihm gleich.
»Auf die Zukunft. Kein Blick zurück.«
Als sie an ihrem Wein nippte, überlegte Linda sich, dass sie alle Schlimmes durchgemacht hatten und ihr Leben nun ein anderes war. Aber die meisten der schrecklichen Ereignisse, wenn nicht gar alle, hatten sie selbst heraufbeschworen, mit ihrer Blindheit und ihrem Egoismus. Aber wenn man es zuließ, wuchs das Gras des Alltags darüber, jeden Tag ein kleines bisschen mehr, und das war vielleicht das größte Wunder.
NEUNUNDZWANZIG
I ch sitze wieder allein vor meiner Tastatur, um aus meinen Gedanken und Erlebnissen eine eigene Welt zusammenzustellen - auch wenn ich mich mit der Vorstellung anfreunden muss, dass sich keine Fiktion mit den Ereignissen der letzten Wochen messen kann. Ich schreibe, weil ich muss und weil ich nichts anderes kann. Ich verarbeite meine Erlebnisse und bringe sie zu Papier, um sie zu ordnen und in den Griff zu
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