Huete dich vor deinem Naechsten
Pullovers. Ich hörte, wie die Wolle riss. Übelkeit und Schwindel zwangen mich fast in die Knie. Er packte mich und schleuderte mich mit voller Wucht gegen die Latten des Verschlags. Ich spürte meine Lippe aufplatzen, als sie gegen das Holz knallte.
Aber ich spürte auch, dass die Tür aufgesprungen war, und taumelte weiter: aus dem Käfig und einem rechteckigen Lichtfleck entgegen, der nur eine Tür sein konnte. Ich hörte ihn hinter mir brüllen, als ich die Treppe erreichte und immer zwei Stufen auf einmal nahm. Das Adrenalin verlieh mir mehr Kraft, als ich in meinem Zustand eigentlich besaß. Am oberen Ende der Treppe erwartete mich eine Tür, die ins Freie führte. Dem Licht und der Stille nach zu schließen war es kurz vor Sonnenaufgang. Ich wusste nicht, wo ich mich befand und wohin ich laufen sollte, und rannte einfach los. Ich hörte ihn herauskommen und die Tür knallen. Die Mauern ringsum warfen den Knall zurück.
Isabel . Seine Stimme klang so, wie ich mir immer das Stöhnen der Heiligen auf der Brücke vorgestellt hatte. Isabel .
Es gab noch so viele Fragen, aber ich hatte endlich, wenn auch zu spät, eingesehen, dass ich aus der Dunkelheit fliehen musste. Hoffentlich würde das Licht mich willkommen heißen.
Ich stolperte durch enge Kopfsteinpflastergassen und taumelte an geschlossenen Cafés und wasserlosen Brunnen vorbei. Auf einmal hatte ich das Gassengewirr der Altstadt hinter mir gelassen und war schon fast sicher, ihn abgehängt zu haben. Aber dann hörte ich Schritte hinter mir. Leichter Schneefall setzte ein. Ich sackte auf einer Bank zusammen und schaffte es nicht mehr, das Licht im Blick zu behalten. Die Dunkelheit verschluckte mich, wenn auch nur für einen Augenblick. Ich hörte die Frage, von der ich wünschte, ich hätte sie nie gestellt.
Kde je Kristof Ragan?
Trotz der Kälte, trotz des vielen Bluts im Schnee fühle ich mich plötzlich leicht und beschwingt. Eine ferne, innere Stimme warnt mich, dass es nicht gut sein kann, sich so wohl zu fühlen. Ich höre weitere Schüsse, Schritte, mal näher, mal weiter entfernt. Alles scheint sich an einem fernen Ort abzuspielen. Ich denke an meinen Vater, der uns entglitt. Und plötzlich verstehe ich den Sog des Nichts. Ständig dieses innere Chaos … Ich stelle mir vor, wie schön es wäre, endlich Ruhe zu haben, als ich eine laute, kommandierende Stimme höre. Izzy, wenn du jetzt einschläfst, wachst du nicht mehr auf. Hast du verstanden? Steh auf! Ich weiß, es tut weh, aber du musst jetzt aufstehen. Beweg dich, schrei um Hilfe. Gib nicht auf. Wir brauchen dich. Die Stimme meiner Schwester. Und ausnahmsweise tue ich, was mir befohlen wird.
Die Welt ist wieder da, und auch der brennende Schmerz in meinem Bauch. Ich bin verrückt vor Schmerz, aber ich weiß, dass ich nicht in diesem Hinterhof sterben will. Plötzlich jagt der Gedanke mir Angst ein. Die Angst versetzt mir einen weiteren Adrenalinstoß, und ich rapple mich auf. Ich unterdrücke einen Schrei, obwohl der Schmerz mich durchzuckt wie ein greller Blitz.
Alles dreht sich, aber ich stütze mich an der Mauer ab und schleppe mich zum Tor. Im Schnee sehe ich eine Blutspur. Ich erinnere mich an die Schüsse und frage mich, ob er verletzt ist. Wurde er angeschossen? Falls ja, ist er dennoch in Bewegung geblieben, und ich habe dasselbe vor. Am Boden sehe ich ein Chaos aus Fußabdrücken, die langsam unter frischem Schnee verschwinden. Ich folge seiner Blutspur und lege meine eigene darüber.
Es ist totenstill. Oder vielleicht kann ich nichts mehr hören, als ich mich durch eine steil abfallende, gewundene Straße schleppe, vorbei an einem geschlossenen Café und den Brückentürmen der Kleinseite. Ein junger Mann kommt mir entgegen, wirft mir einen misstrauischen Blick zu und geht schnell weiter. Er dreht sich nicht noch einmal um, bietet mir keine Hilfe an. Na toll.
Ich halte mich an einem schwarzen Eisengeländer fest und steige eine enge, steile Treppe hinunter. Ich erreiche eine Kopfsteinpflasterstraße und entdecke einen Marionettenladen mit heruntergelassener Jalousie und daneben ein kleines Hotel. Zu meiner Linken ragt ein modernes Apartmenthaus in die Höhe. Vor mir sehe ich den Kanal, den die Einheimischen Èertovka nennen - Teufelsbach.
Ich sehe immer mehr Blut - seins und meins. Ich folge der Spur, bis ich an der Uferkante stehe. Es ist so still. Eine Schwanenfamilie zieht friedlich vorbei. Ganz in der Nähe dreht sich ein altes Mühlrad teilnahmslos und gemächlich
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