Hueter der Erinnerung
Lebens.
»Fugze! Fugze!«, rief Gabriel einmal aus und Jonas fuhr rasch auf den nächstbesten Baum zu, obwohl er seit Tagen kein Suchflugzeug
mehr gesehen hatte und auch jetzt kein Motorengebrumm hörte. Sobald er das Rad im Strauchwerk versteckt hatte und er Gabriel
packen wollte, sah er, dass dieser mit seinem kleinen, molligen Ärmchen nach oben deutete.
Ängstlich blickte Jonas nach oben, doch er entdeckte kein Flugzeug. Obwohl er das seltsame Tier, dem Gabriels ganzes Interesse
galt, noch nie zuvor mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte er es aufgrund der verblassenden Erinnerungen, die der Geber
ihm einst übertragen hatte, identifizieren. Es war ein Vogel.
Wenig später entdeckten sie noch mehr Vögel, die über ihren Köpfen kreisten und krächzten und zwitscherten.Sie sahen Rehe. Und einmal saß ein kleines rötlich braunes Geschöpf mit einem buschigen, hochgestellten Schwanz neben dem
Weg, das neugierig und furchtlos zu ihnen herüberblickte. Doch Jonas konnte nicht sagen, wie dieses Tier hieß. Er bremste
nur etwas ab und er und das merkwürdige Tier starrten einander an, bis es sich abwandte und im Wald verschwand.
Alles war so neu für ihn. Nach dem vorhersehbaren Leben im Land der
Gleichheit
war er überwältigt von den Überraschungen, die hinter jeder Wegbiegung lagen. Immer wieder fuhr er langsamer, entweder um
verzückt die Wildblumen zu betrachten, dem heiseren, kehligen Trillern eines unbekannten Vogels zu lauschen oder einfach nur
um zu beobachten, wie der Wind durch die Blätter der Bäume raschelte. Nie im Laufe seiner fast dreizehn Lebensjahre in der
Gemeinschaft hatte er so einfache, tief empfundene Glücksmomente erlebt.
Doch auch verzweifelte Ängste bauten sich jetzt in ihm auf. Die unerträglichste Angst war die, verhungern zu müssen. Da sie
die Anbauflächen längst hinter sich gelassen hatten, war es fast unmöglich geworden, etwas Essbares aufzutreiben. Ihr magerer
Vorrat an Kartoffeln und Karotten, die sie auf dem letzten Feld neben ihrem Weg ausgegraben hatten, war aufgebraucht und sie
waren nun so gut wie immer hungrig.
Jonas kniete an einem kleinen Fluss nieder undversuchte erfolglos, mit den Händen einen Fisch zu fangen. Frustriert warf er kleine Steinchen ins Wasser, aber schon während
er es tat, war ihm klar, dass es nichts nützen würde. In seiner Verzweiflung knotete er Gabriels Decke zu einem behelfsmäßigen
Netz zusammen, das er an einen gekrümmten Stock band.
Nach endlosen Versuchen verfingen sich schließlich zwei zappelnde silberfarbene Fischchen darin. Mit einem scharfkantigen
Stein zerhackte er sie systematisch in kleine Stückchen und teilte den rohen Fisch anschließend zwischen sich und Gabriel
auf. Sie aßen ein paar Beeren und versuchten vergebens, einen Vogel zu fangen.
Nachts, wenn Gabriel neben ihm schlief, konnte Jonas vor Hunger nicht einschlafen und dachte an das Leben in der Gemeinschaft
zurück, wo dreimal täglich leckere Mahlzeiten in jedes Haus geliefert wurden.
Er versuchte, sein nachlassendes Erinnerungsvermögen zu trainieren und sich Essen vorzustellen, wobei er kurze, verlockende
Bruchstücke zustande brachte: Bankette mit Bergen von gebratenem Fleisch, Geburtstagsfeiern mit Kuchen und Torten, saftige
Früchte, von der Sonne gewärmt, die nur vom Baum gepflückt werden mussten.
Doch sobald die Erinnerungssplitter verblassten, verspürte er wieder dieses nagende, schmerzende Gefühl der Leere. Ihm fiel
ein, wie er einmal als Kind verwarnt worden war, weil er einen falschen Ausdruckverwendet hatte. Er hatte leichtsinnigerweise behauptet, er wäre am Verhungern. Er sei nicht am Verhungern, wurde ihm gesagt,
war es noch nie gewesen und würde es auch nie sein.
Doch, jetzt war er es. Wäre er in der Gemeinschaft geblieben, wäre ihm diese Erfahrung erspart geblieben. So einfach war das.
Wie hatte er sich früher nach freien Entscheidungsmöglichkeiten gesehnt! Doch dann, als er vor der Wahl stand, hatte er die
falsche Entscheidung getroffen: Er war gegangen. Nun war er am Verhungern.
Wenn er hingegen geblieben wäre …
Er führte diesen Gedanken weiter. Wenn er geblieben wäre, wäre er in anderer Hinsicht verhungert. Er hätte den Rest seines
Lebens nach Gefühlen, Farben und nach Liebe gehungert. Und Gabriel? Für Gabriel hätte es gar kein Leben gegeben. Er hatte
also gar keine andere Wahl gehabt.
Das Radfahren fiel ihm immer schwerer, je schwächer er infolge der
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