Hueter der Erinnerung
Nachtschicht beschwert. Denn dort arbeiteten Pfleger, denen das Interesse, das Geschick oder das Verständnis für die wichtigerenAufgaben der Tagesarbeit fehlten, und die Arbeit in der Nachtschicht war auch weniger angesehen. Den meisten Pflegern in der
Nachtschicht war nicht einmal ein Ehepartner zugeteilt worden, weil ihnen die wichtige Fähigkeit fehlte, Beziehungen aufbauen
zu können, was für die Gründung einer Familie als unerlässlich galt.
»Vielleicht können wir ihn sogar behalten«, schlug Lily mit unschuldigem Augenaufschlag vor. Aber sie meinte es nicht ernst.
Das wusste Jonas und das wussten alle.
»Lily«, ermahnte Mutter sie mit einem Lächeln, »du kennst die Regeln!«
Zwei Kinder – ein männliches und ein weibliches – für jede Familieneinheit, so stand es klar und deutlich in den Regeln.
Lily kicherte. »Na ja«, sagte sie, »ich dachte, man könnte vielleicht einmal eine Ausnahme machen.«
Als Nächste sprach Mutter, die eine führende Stellung bei Gericht bekleidete, über ihre Gefühle. Heute war ihr ein Wiederholungstäter
vorgeführt worden, jemand, der bereits einmal gegen die Regeln verstoßen hatte. Jemand, von dem sie geglaubt hatte, ihn angemessen
und gerecht bestraft zu haben, und der seinen Platz in der Gesellschaft wieder eingenommen hatte: bei seiner Arbeit und in
seiner Familie. Ihn ein zweites Mal vorgeführt zu bekommen war eine herbe Enttäuschung für sie gewesen und machte sie jetztnoch wütend. Sie hatte auch Schuldgefühle, weil es ihr offensichtlich nicht gelungen war, nachhaltig auf seinen Lebenswandel
einzuwirken.
»Ich habe auch Angst um ihn«, gestand Mutter. »Ihr wisst ja, dass er keine dritte Chance hat. Die Regeln besagen, dass er
im Falle eines dritten Vergehens freigegeben wird.«
Jonas schauderte. Er wusste, dass so etwas geschah. Auch der Vater eines Jungen aus seiner Elfergruppe war vor Jahren freigegeben
worden. Darüber wurde nie gesprochen, die Schande war grenzenlos. Das Ganze war einfach unvorstellbar.
Lily stand auf, ging zu ihrer Mutter hinüber und streichelte ihren Arm.
Vater blieb auf seinem Platz sitzen und nahm Mutters Hand. Jonas ergriff die andere.
Einer nach dem anderen versuchte, sie zu trösten. Nach einigen Minuten lächelte sie wieder und dankte ihnen mit belegter Stimme.
Die Aussprache wurde fortgesetzt. »Jonas?«, fragte Vater. »Du bist heute der Letzte.«
Jonas seufzte. Heute Abend hätte er es fast vorgezogen, seine Gefühle für sich zu behalten. Aber das widersprach natürlich
den Regeln.
»Ich bin irgendwie besorgt«, gestand er schließlich, froh darüber, dass ihm der richtige Ausdruck doch noch eingefallen war.
»Worüber, mein Sohn?«, fragte Vater fürsorglich.
»Ich weiß, dass ich mir keine Sorgen machenmüsste«, erklärte Jonas, »und dass jeder Erwachsene das mitgemacht hat. Du, Vater, und auch du, Mutter. Es geht um die große
alljährliche Zeremonie. Bald ist Dezember.«
Mit großen Augen blickte Lily auf. »Die Zwölfer-Zeremonie«, flüsterte sie ehrfürchtig. Schon die Kleinsten – in Lilys Alter
und noch jünger – wussten, dass sich da die Zukunft eines jeden entscheiden würde.
»Ich bin froh, dass du uns von deinen Gefühlen erzählt hast«, sagte Vater.
»Lily«, sagte Mutter und gab dem Mädchen ein Zeichen. »Zieh dir schon mal dein Nachthemd an. Vater und ich unterhalten uns
noch ein Weilchen mit Jonas.«
Lily seufzte zwar, aber gehorsam glitt sie von ihrem Stuhl. »Vertraulich?«, fragte sie.
Mutter nickte. »Ja, ein vertrauliches Gespräch mit Jonas.«
2
Jonas beobachtete seinen Vater, als dieser sich eine Tasse Kaffee nachschenkte. Er wartete.
»Weißt du«, sagte sein Vater schließlich, »als ich noch klein war, fand ich jeden Dezember aufregend, genau wie du und Lily
sicherlich auch. Jeder Dezember bringt Veränderungen mit sich.«
Jonas nickte. Er konnte sich an alle vergangenen Dezember erinnern, bis damals, als er vermutlich ein Vierer gewesen war.
An die früheren nicht. Aber er verfolgte sie jedes Jahr sehr aufmerksam und er erinnerte sich noch gut an Lilys erste Dezember-Zeremonien.
Besonders an ihren ersten Dezember, als Lily einen Namen bekommen hatte und seiner Familie zugeteilt worden war – am Tag,
als sie ein Einser geworden war.
Die Zeremonie für die Einser war immer recht laut und lustig. Jedes Jahr im Dezember wurden die im Laufe des Jahres geborenen
Kinder zu Einsern ernannt. Nacheinander wurden sie – es waren
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