Hüter der Flamme 06 - Die Straße nach Ehvenor
wären es die guten Zeiten gewesen. Das nehme ich ihnen nicht ab. Vielleicht weil ich ein gutes Gedächtnis habe – ich erinnere mich an zu viele Tage draußen auf der Straße, an denen ich auf dem harten Boden schlief. Doch niemals tief, denn es stand immer Ärger an. Zum Teufel, damals waren wir auf Ärger aus. Das gehörte einfach dazu.
»Und?« fragte Jason. »Was hast du heute morgen vor?«
»Ich habe eine Verabredung mit einem Bogen und einigen Kaninchen - vielleicht auch mit einem Hirsch«, antwortete ich. Vielleicht auch mit etwas anderem. Ich war wahrscheinlich eher mit dem Ast einer Eiche verabredet. Nein, nicht um daran zu hängen, sondern um einige Pfeile hineinzuschießen.
Tennetty nickte verständnisvoll. »Du und der Zwerg?«
Ich schnaubte, aber die Bemerkung hätte mich eigentlich nicht überraschen dürfen. Selbst nach zwanzig Jahren war Tennetty noch immer nicht aufgefallen, daß Ahira nicht gern jagen ging. Wenn es nicht unbedingt notwendig war, auch nicht nach Nahrung - und als Sport schon gar nicht.
»Ist nichts für ihn. Ahira schläft noch.« So war das eben mit meiner Familie.
Es war, wie sooft, später als spät geworden, aber die Sonne war noch nicht einmal richtig aufgegangen. Ich machte ihr das nicht zum Vorwurf. In der Stunde kurz vor Tagesanbruch möchte ich langsam in ein Bett hineinwanken, um zu schlafen, und nicht herausstolpern. Es war untypisch für mich, zu dieser Stunde wach zu sein, aber ich habe schon vor langer Zeit gelernt, untypische Dinge zu tun - das hält einen jung und manchmal am Leben.
Oder ich machte mir nur selbst etwas vor. Ich bin nie sehr konsequent gewesen. Vielleicht war ich wegen der verdammten Träume und wegen Kirah aufgewacht.
Ich schenkte mir noch eine Tasse Tee ein. Ich weiß nicht, was U'len hineinmischt, aber er roch angenehm nach Nuß, und das mochte ich inzwischen sehr gern. So etwas hätte ich in meiner Zeit auf der Straße nicht zu trinken gewagt - denn man kann es den ganzen Tag im Schweiß riechen; wenn du auf der Straße lebst, ißt du das gleiche wie die Einheimischen, und wenn nicht, dann halte dich zurück - aber der Tee schmeckte wirklich gut.
Jason beobachtete mich fragend über den Rand seines Bechers hinweg. »Geht's dir gut?«
»Alles in Ordnung«, sagte ich leichthin. Lügen fallen mir immer leicht. Tatsächlich habe ich in letzter Zeit eine Menge Probleme mit dem späten Einschlafen. Und das waren nicht mal die einzigen Probleme. Nach mehreren Jahren, in denen es Kirah besser ging, verschlechterte sich ihr Zustand nun wieder. Manche Dinge vermag selbst die Zeit nicht zu heilen. Manche Dinge bleiben einfach unter der Oberfläche und schwären weiter.
Verdammt noch mal, es war nicht meine Schuld. Bevor ich sie damals getroffen hatte, bevor Karl und ich sie befreit hatten, war Kirah mißbraucht worden. Einer ihrer Besitzer war mehr als nur brutal gewesen, und während ihr Körper auch keine Narben trug - glaub mir, in glücklicheren Tagen haben wir dies sehr sorgfältig erforscht -, hatten die Verletzungen ihrer Seele im Laufe der Jahre weitergewirkt.
Es mußte schon ein Wunder geschehen, doch ich hatte keines zur Hand.
Wir von der Anderen Seite haben manchmal scheinbar Wunder gewirkt, aber das ist nur eine Frage des Scheins - wir haben einfach die Fertigkeiten eingesetzt, die wir mitgebracht oder beim Übergang erlangt hatten. Wir waren ursprünglich sieben Perso nen: ich, ein Student der Agrar wissenschaft, Karl, ein Dilettant; James Michael Finnegan hatte Computertechnik studiert, Andrea Englisch, Doria Hauswirtschaftslehre, Louis Riccetti Ingenieurwesen und der verstorbene Jason Parker (R. I. P. - er überstand nicht einmal vierundzwanzig Stunden auf Dieser Seite) Geschichte.
Die angemessene Behandlung für Kirahs Leiden war auf Dieser Seite nicht zu bekommen. Ob sie auf der Anderen Seite zu bekommen wäre, sollte man nur dann erörtern, wenn man gerne über sinnlose Fragen debattiert. Psychotherapie kann wohl helfen, aber sie kann keine Wunder wirken.
Die angemessene Behandlung für das, worunter ich litt, konnte man wahrscheinlich, wenn man von der letzten Nacht ausging, zwei Zimmer entfernt von Kirah und mir finden - im Bett von Jasons Adoptivschwester Aeia. Natürlich nur, wenn man davon ausging, daß Aeia da weitermachen wollte, wo wir aufgehört hatten.
Andererseits war es an der Zeit, wieder auf die Straße hinauszuziehen.
Mir gefiel keine der beiden Möglichkeiten besonders. Meine Beziehung mit Aeia wieder
Weitere Kostenlose Bücher