Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
zerstören und damit endgültig den unwissenden Reliquiengläubigen zu entziehen. Ich habe sie ins Feuer geworfen, doch sie ist nicht verbrannt. Ich habe sie mit dem Beil zerhacken wollen, doch sie ist nicht zersplittert. Ich wollte sie umschmieden, doch es war unmöglich.«
»Wie kann das sein? Es ist doch nur eine einfache Lanze, wie Sie sagen.«
»Ich habe lange darüber nachgedacht. Zeit hatte ich ja genug. Ich glaube, es ist das mächtige Blut Jesu. Die Lanze hat ja tief in Jesu Leib gesteckt, weil der Hauptmann sie ihm bis zum Schaft in den Leib gestoßen hat. Das Blut ist an ihr heruntergeflossen, hat sie benetzt, und überall dort, wo es die Lanze befeuchtet hat, ist sie auf ewige Zeiten versiegelt worden. Es hat sehr lange gedauert, bis ich das begriffen hatte.«
Montesi hielt sich mit der Hand an der Lehne der Bank fest und ein furchterregendes Röcheln entwich seinen Lungen. Es brauchte einen Augenblick, bis er sich von seinem Anfall erholte. Dann sagte er: »Es ist das Blut Jesu: Es versiegelt auch uns. Wenn wir an Jesus Christus und an sein Werk am Kreuz glauben, werden wir auf ewig versiegelt. Sie haben richtig gehört: Es geht um ewiges Leben. Stellen Sie sich einen unsichtbaren Stempel vor, der eine Prägung auf unserer Stirn hinterlässt, ein Zeichen, das nur die Engel lesen können und auf dem steht: ›Du bist mein geliebtes Kind, bis in alle Ewigkeit.‹ Die Lanze ist genauso versiegelt worden, sie ist vor dem Verfall gerettet worden, um uns als ein Bild zu dienen. Als Bild für die gute Nachricht Gottes: ›Wer zu mir gehört, wird nicht umkommen, auf den gebe ich Acht, den erhalte ich am Leben.‹« Der alte Mann blickte in Raphaelas Gesicht und wechselte zum vertrauten Du. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Der Alte wird bald sterben. Das stimmt. Aber es ist nur die vergängliche Hülle, die hier bleibt.« Wieder hustete Montesi.
»Was soll ich denn jetzt tun, Pater?«
Sanft strich der Alte Raphaela über die Wange, mit einer Liebe, die man nur für sein eigenes Kind empfinden kann. »Ich glaube, ich sollte sie dir geben.«
Raphaela erstarrte. Sie lehnte sich an der Bank an und schwieg. Sie dachte nach. Sie müsste die Waffe ein Leben lang verstecken – und ständig darauf achten, nicht über sie zu reden. Doch ihre schlimmste Befürchtung war, dass sie die Lanze eines Tages höher achten würde als den, der damit vor 2000 Jahren durchbohrt worden war.
»Was könnten wir tun, falls ich ihrer nicht würdig wäre? Gibt es keine andere Möglichkeit, sie den Menschen vorzuenthalten?«
»Es gibt eine Alternative. Wir müssten sie tief in der Erde vergraben. Sie wird dort nicht verrotten und bleibt, was sie über die Jahrhunderte war: verborgen.«
Raphaela zögerte nicht lange und sagte: »Ja, dann sollten wir das tun. Schaffen wir das gemeinsam?«
»Aber ja, ich bin doch noch jung«, scherzte Montesi. Raphaela erhob sich und half dem Pater auf. Gemeinsam gingen sie in einen alten Schuppen hinter dem Haus und kramten einem Spaten hervor. Sie stapften auf einen benachbarten Hügel, auf dem sattes, unverbranntes Grün leuchtete. Bis jetzt hatte die junge Frau noch nicht gemerkt, wie viele Stunden vergangen waren, seit sie hier angekommen war. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, musste es früher Abend sein. Raphaela stieß die Spitze des Spatens in die Erde und wunderte sich, wie leicht und mühelos sich dort graben ließ. Sie musste kaum Kraft aufwenden, Nach einer Stunde war sie noch nicht ermüdet, und Montesi stand ebenfalls wie ein Felsen in der Brandung. Alle Mattigkeit schien von ihm gewichen, seine Augen glänzten, und er wirkte um Jahre jünger.
Gemeinsam legten sie die Lanze in das längliche, gut einen Meter tiefe Loch und bedeckten sie mit der frischen, duftenden Erde. Zum Schluss stampften beide wie Kinder auf dem Boden herum, um ihn zu verfestigen, und blieben noch einen Moment vor diesem eigenartigen Grab stehen.
»Es war die richtige Entscheidung, sie zu vergraben. Das ist wie ein stellvertretendes Begräbnis für jede Reliquienverehrung, für jede Konkurrenz zu unserem Schöpfer, dem alle Ehre gebührt.«
Raphaela nickte stumm. »Und wissen Sie was, jetzt koche ich erst mal für uns beide. Was halten Sie davon? Ich habe riesigen Hunger.«
Montesi strahlte über sein, von vielen Jahren gezeichnetes Gesicht. »Das ist eine ausgezeichnete Idee. Es ist schon ziemlich lange her, dass jemand was für mich gekocht hat.«
Raphaela und Montesi gingen den seichten Hügel herab.
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