Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
zu den anderen Trauernden setzen können. Doch das lang ersehnte Ziel war zu tief in seiner Seele eingebrannt, sodass es für ihn keinen Weg mehr zurückgab.
Der humpelnde Mann folgte dem Soldaten, so schnell, wie seine Behinderung dies zuließ. Als er ihn erreicht hatte, riss er den muskulösen Mann mit der linken Hand an der Schulter herum, um ihm mit der rechten die Lanze zu entreißen.
Der Legionär blickte erstaunt in die Augen eines, wie ihm schien, verstörten, bartlosen Mannes. Wie konnte ein Irrer es wagen, einen römischen Soldaten unbewaffnet anzugreifen und vor allem: warum ? Er lockerte den Griff um seine Lanze nicht eine Sekunde und hatte keinerlei Mühe, den Angriff des kleinen kahlköpfigen Mannes zu parieren. Er schlug ihm mit dem linken Handrücken ins Gesicht und stach ihm mit seiner Lanze kurz, aber heftig in die Seite. Er drehte sich um, vergaß diesen kleinen Zwischenfall augenblicklich und lenkte seine Schritte erneut in Richtung seiner Bestimmung.
Der Fremde indes sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie und fand sich neben den vielen anderen Menschen wieder, die noch fassungs- und regungslos am Boden verharrten und sich die Tränen mit ihren groben Kleidern aus den Augen wischten. Er war wenige Meter von den Kreuzen entfernt und starrte auf die Szene, die sich dort abspielte.
Longinus hatte den ihm aufgetragenen Stich vorgenommen und rührte sich, vor Ehrfurcht erstarrt, keinen Millimeter von der Stelle. Das Blut Jesu floss von der Spitze zum Schaft der Lanze hinunter und erreichte die Finger des zitternden Soldaten. In diesem Moment ließ der die Lanze fallen und schaute sich seine blutbedeckten Hände an. Die Lanze lag auf dem Boden, zu Füßen des Mannes, der die Geschichte der Menschheit verändert hatte. Der Fremde hielt seine Augen auf sie gerichtet. Dort lag es, das Objekt seiner Begierde, doch unter Aufbietung aller seiner Kräfte, gelang es ihm nicht mehr, sie an sich zu nehmen. Schon gar nicht war daran zu denken, mit ihr hinüber zum Ölberg zu rennen, um von dort in seine Zeit zurückzureisen. Er war unfähig, sich zu bewegen, und realisierte perplex die hämische Wendung, die sein Plan genommen hatte. Sie spottete seiner mehr, als sein ganzes Leben es getan hatte.
Der Hauptmann blickte zum Himmel auf, vorbei an dem Mann, der soeben sein Herz zum Leben erweckt hatte.
Der verletzte Fremde wurde von seiner Umgebung kaum wahrgenommen, obgleich er stöhnte und ächzte. Keiner sah, dass er im Begriff war zu sterben, alle um ihn herum grämten sich vor Trauer. Nach einer Weile fühlte er keine Schmerzen mehr in seinem Bauch, nur noch in seiner Seele. Das Blut hatte seinen Körper genauso verlassen wie seine Hoffnung. Alles, wofür er gelebt hatte, verflüchtigte sich wie Rauch im Winde.
Zwei Soldaten traten zu ihm und betrachteten das ordentlich rasierte Häufchen Elend am Boden. Der Fremdling zusammen sackte und tat seinen letzten Atemzug. In einer Zeit, in die er nicht gehörte, und an einem Ort, der ihm nicht zum Triumph geworden war. Die Soldaten sahen sich nach allen Seiten um und hielten Ausschau nach Menschen, die dem Fremden nahe gestanden hatten und sich seiner annehmen würden.
Soeben wurde der Leichnam Jesu abgenommen und die Eltern jenes Schächers, mit dem Jesus kurz vor seinem Tod noch freundliche Worte gewechselt hatte, baten darum, in aller Eile den Körper ihres Sohnes vom Kreuz nehmen zu dürfen und ihn nicht dem Fraß der Raubtiere und der Vögel zu überlassen.
»Na gut. Beeilt euch aber«, rief ihnen ein weiterer Legionär zu. »Und nehmt den anderen und diesen hier auch mit.« Er zeigte zu dem zweiten Räuber am Kreuz und trat mit seinen Ledersandalen vor den Körper des am Boden liegenden, weißhäutigen Fremden. Die Familie des bußfertigen Schächers holte drei Esel heran, jeweils einen für eine Leiche. Es war ihnen nicht recht, sich um den dritten am Boden liegenden Mann kümmern zu müssen. Sie kannten ihn nicht und sein fremdländisches Äußeres stieß sie ab. Doch sie hatten keine Wahl. Dies war die Bedingung gewesen, dass sie ihren Sohn vom Kreuz abnehmen durften.
Sie hoben gemeinsam den blutbefleckten Körper an Händen und Füßen an und warfen ihn auf den Rücken eines Esels. Keiner der Legionäre oder sonst jemand blickte sich ein einziges Mal nach ihm um.
Der Hauptmann indes, den man Longinus rief, hatte seine Lanze zu Füßen Jesu liegen lassen. Er schien sonderbar verwandelt. Er wollte die Waffe nicht mehr haben, die aus
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