Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Menschen an. Er ersinnt sich Dinge, von denen er glaubt, sie brächten ihn näher zu Gott. Und dabei vergisst er, dass es meist doch sein eigener Weg ist, den er einschlägt, und dass es seine eigenen Gedanken sind, die er als Maßstab anlegt.«
»Sie meinen, das alles sind nicht Gottes Gedanken.« Raphaela deutete nach oben.
Montesi schüttelte den Kopf. »Religion ist in erster Linie eine Fülle von Menschen erdachter Rituale, Gebote und Gesetze. Wer fragt denn danach, was Gott wirklich will? Glauben Sie ernsthaft, er möchte, dass wir irgendwelche Bilder küssen, statt ihm unsere Zuneigung zu zeigen? Will er allen Ernstes, dass wir uns auf die Suche nach uralten Reliquien machen, nur weil es von ihnen heißt, sie hätten Jesu Kopf berührt, seinen Leib bedeckt oder seinen Körper durchbohrt?« Raphaela schwieg. »Sogar der Kelch, aus dem er getrunken hat und in dem angeblich sein Blut nach seinem Dahinscheiden aufgefangen wurde, gilt vielen Menschen mehr, als er selbst. Ich will Ihnen etwas sagen: Die Jagd nach dem Heiligen Gral ist nur eine Suche nach Selbsterlösung. Wer sich nur um Jesu Trinkbecher bemüht, will ihn doch gar nicht als Person kennen lernen. Er will nur etwas von ihm! Menschen glauben, tote Dinge wie Kelche, Dornenkronen, Nägel oder Kreuzessplitter könnten Jesu Kraft übertragen. Doch sie wollen diese Kraft nie von ihm selbst, nie sein Wort, seine helfende Hand, seine Liebe, seinen Geist. Ich kann all das ganze Gerangel um Reliquien und Macht nicht mehr ertragen.«
Montesi wiegte sich wie ein Kind vor und zurück und schloss die Augen. Raphaela spürte, das ihn das Gespräch anstrengte, darum wartete sie mit ihrer nächsten Frage einen Moment. »Und was ist mit Lourdes, mit all den Wunderheilungen durch Reliquien, die von Priestern gesegnet wurden? Was ist mit all den Hoffnungen und Träumen, die die Menschen daran knüpfen? Ist es nicht besser, sie auf diese Weise zu Gott zu bringen, als gar nicht?«
»Das Problem ist, dass sie auf diesem Weg nicht bei dem Gott ankommen, von dem die Bibel spricht. Der Gott, den sie meinen, ist ein von Menschen erdachter, aber es ist nicht der Erlöser der Menschheit. Der Zweck heiligt eben nicht immer die Mittel.«
»Knapp daneben ist auch vorbei«, murmelte Raphaela leise, doch ihre Worte waren dem Alten nicht entgangen.
»All diese Dinge sind letztlich eine Konkurrenz für Gott, eine Täuschung, weil sie von der wahren Hinwendung zu ihm ablenken. Zu Gott kommt man nicht über Lanzen, Schwerter, Kelche und sonstige Dinge.« Er machte eine kleine Pause. »Selbst wenn die wahre Lanze die Kraft und die Macht besäße, Wunder zu tun, wäre das immer noch kein Grund, sie Gott vorzuziehen. Verstehen Sie, was ich meine?«
Raphaela nickte und erhob sich von der Bank. Sie brauchte ein wenig Abstand. Sie verstand, was er ihr sagen wollte und fühlte sich ertappt. Er hatte den Finger auf ihre Wunde gelegt. Doch was meinte er mit dem letzten Satz? Der hörte sich an, als spräche er der Lanze ihre Macht nicht ab.
Montesi stand unvermittelt auf. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht verstehen. Und natürlich passieren viele Wunder, an denen Gott beteiligt gewesen ist. Wunder, die von ihm ausgegangen sind, um seiner Schöpfung zu helfen. Aber niemals ist die Gabe größer als der Geber.« Montesi wandte sich zum Haus und rief, auf der Türschwelle stehend.»Ich bin gleich wieder da.«
Nach einigen Minuten kam er zurück und hielt einen mit einem grauen Tuch umwickelten Gegenstand in seinen Händen. Aus dem Bündel ragte ein abgebrochener Holzstiel. Der alte Mann setzte sich und rief Raphaela zu sich, die direkt vor ihm stehen blieb. Behutsam wickelte der Alte das Tuch ab, bis es den Blick auf etwas freigab, mit dem sie nicht gerechnet hätte: ein schmuckloser Speer kam zum Vorschein, dessen Schaft nur noch zu einem geringen Teil intakt war.
»Das, mein liebes Kind, ist ein echtes Pillum aus der Zeit Jesu«, sagte Montesi kurz und hielt seinen Blick auf die Waffe gerichtet. »Eine einfache Wurflanze ohne Geschnörkel und aufwendige Verzierungen.«
»Darf ich sie mir mal ansehen?«, fragte Raphaela.
»Natürlich. Ist ja nicht Besonderes. Nur eine einfache Lanze.«
Raphaela ließ ihre Finger über die stumpfe Klinge gleiten. Die Oberfläche fühlte sich rau an und war mit modernen, maschinell bearbeiteten Metalloberflächen nicht zu vergleichen. Auch rostete sie an einigen Stellen. Das Holz war am Übergang zum Metall aufgesplittert und dennoch
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