Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
fest mit ihm verbunden.
»Ist diese Lanze wirklich so alt?«, fragte Raphaela Montesi und blickte von der Waffe zu ihm auf.
»Sie hat einmal einem römischen Hauptmann gehört. Irgendwann, nach einem besonderen Ereignis, hat er sie weggeworfen. Ein anderer hat sie mitgenommen und verwahrt. Danach wurde sie am andere weitergereicht, die sie ebenfalls versteckt haben. Das waren allesamt einfache Leute, so wie ich.«
Damit endeten Montesi unspektakulären Ausführungen.
»Woher wissen Sie das?«
»Steht alles in der Chronik«.
»In welcher Chronik?«
»In der Chronik der Männer, die die Lanze von einer Generation zur nächsten bewahrt haben.«
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Warum sollte man eine einfache Lanze aufheben, wenn nicht eine besondere Bedeutung mit ihr verknüpft war?
»Ist dies etwa die Lanze, die Jesus …?«
Montesi zögerte mit der Antwort, und Raphaelas Augen hingen gespannt an seinen Lippen. Nach einer Zeit, die ihr wie eine kleine Ewigkeit vorkam, sagte er. »Ich habe sie von meinem Vater bekommen, der wiederum von seinem und so weiter. Die Chronik erzählt die Geschichte der Lanze, die über 25 Generationen hinweg von einem treuen Jünger zum nächsten weitergereicht wurde. Niemals wäre jemand in dieser Linie auf die Idee gekommen, sie zu etwas zu ernennen, das sie in Wirklichkeit nicht war. Keiner von uns sah darin eine Wunderwaffe, einen Heilsbringer oder dergleichen. Das hier ist lediglich die Waffe, die ein römischer Legionär benutzt hat, um sich zu vergewissern, das Jesus von Nazareth tot war, als man ihn vom Kreuz nahm. Nicht mehr und nicht weniger.«
Nun wurde Raphaela unruhig. Sie spürte, wie ihr heiß wurde, und ihr Herz in der Brust hämmerte. Ihre Knie wurden weich und sie musste sich neben Montesi setzen. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie sie schon immer gehabt haben?«
»Gewissermaßen. Mein Vater gab sie mir, kurz bevor er starb. Das war zwei Jahre, bevor ich in den Vatikan kam.«
»Wo wurde die Lanze denn die letzten Jahrhunderte aufbewahrt? Wer waren Ihre Vorfahren? Was ist mit den anderen Lanzen, von denen die Geschichtsbücher berichten?«
»Langsam, langsam, Kind.« Montesi wehrte mit der Hand ab, und Raphaela spürte erneut, wie erschöpft der alte Mann war. Er streckte seinen Rücken und versuchte, der Reihe nach ihre Fragen zu beantworten.
»Die Geschichte weiß von vielen Lanzen, die im Besitz von bedeutenden Herrschern waren. Immer waren es namhafte Ritter, die sie aus dem Heiligen Land geborgen hatten, immer trugen Könige und Heeresführer die Lanze vor sich her und errangen, angeblich durch ihre Kraft, den Sieg. Glaube versetzt eben Berge, manchmal auch der Irrglaube an eine heilsbringende Reliquie. Doch die wahre Lanze, jene, die wirklich von Bedeutung war, weil sie die Prophezeiung erfüllte, wurde von einfachen Menschen an einfache Menschen weitergereicht. Handwerker, Bauern oder Handeltreibende.«
»Einfache Menschen wie Zimmerleute?«, fragte Raphaela.
»Genau. So wie Jesus als Mensch ein einfacher Mann blieb, obgleich er der Sohn Gottes war. Es gab eine feine und schlichte Linie abseits des großen Getöses, abseits der Religion mit ihrem pompösen Getue. Sehen Sie sie sich an.« Montesi nahm die Lanze aus Raphaelas Hand und strich behutsam darüber. Sie ist nichts Besonderes – möchte man meinen. Man könnte sie womöglich in einem Antiquitätenladen für wenige Euro erwerben. Sie ist genauso wie all die anderen zahlreichen Lanzen, die es zur Zeitenwende gegeben hat, nur dass deren Metall bis zum heutigen Tag verrottet und ihr Holz verfault ist.«
»Warum ist diese noch so gut erhalten? Warum ist sie nicht dem natürlichen Verfallsprozess anheimgefallen?«
»Ja, das ist das Besondere an ihr. Nur ein Teil der Lanze ist verrottet. Das Ende des Schaftes ist schon vor vielen Jahrhunderten verfault gewesen.« Montesi strich über die Klinge der Lanze. Nach einer langen Pause sagte er schließlich. »Der Rest der Lanze scheint unzerstörbar zu sein.«
Raphaela sah verwundert Montesi an. »Alles auf dieser Welt ist zerstörbar.«
»Beinahe alles. Ich habe es versucht, glauben Sie mir! Ich bin leider der letzte der Ahnenfolge. Da die Kirche mich vor fünfzig Jahren exkommuniziert hat, war ich nicht mehr an den Zölibat gebunden, habe aber keine Frau gefunden, die die Bürde der Lanze mit mir teilen wollte. Darum habe ich auch keine Kinder, an die ich die Lanze weiterreichen könnte. Eines Tage dachte ich, es sei das Beste, sie einfach zu
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