Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Anfang genommen hatte.
I
Es hätte ein wunderbarer Tag werden können, wie die vielen Tage, Wochen und Monate zuvor. Und keiner der Anwesenden dachte daran, dass er möglicherweise nicht mehr lange unter den Lebenden weilen würde.
Auf unerklärliche Weise kam alles anders, als man vermutet hätte.
Die New Investment Corporation, kurz »NIC«, war in der Rekordzeit von sieben Jahren zu einer der erfolgreichsten Investmentfirmen Deutschlands avanciert. Und der Chef des Unternehmens, Dr. Richard Schneider, liebte es, seinen Teilhabern und Angestellten alljährlich die Erfolgsbilanz des zurückliegenden Jahres und vielversprechende Prognosen für das laufende Jahr präsentieren zu können. So auch an diesem 27. Februar 2005.
Man arbeitete bei der NIC nicht mehr mit Overheadprojektoren oder Flipcharts. Im Zeitalter der digitalen Medien wurden bunte Diagramme per Beamer an die Wand geworfen – und das gesteuert von einem winzigen »Presenter«, der sich in der Hand des Referenten verbarg. Die NIC konnte es sich leisten, modernste Technologie einzusetzen, und es war normal geworden, dass man an jedem Ort der Welt kabellos die aktuellen Börsenkurse abrief. So konnten beim Day-Trading, dem täglichen Kaufen und schnellen Wiederverkaufen der Aktien, optimale Gewinne erzielt werden.
Schnittige Laptops, die modernen Spielzeuge großer Jungs, standen aufgeklappt auf den Tischen vor jedem Sitzungsteilnehmer. Die Diagramme, die sie auf ihren kleinen Bildschirmen, wie auch auf der großen Leinwand im vorderen Teil des Raumes betrachteten, offenbarten trotz allgemein im Lande vorherrschender Rezession, rosige, sechsstellige Zukunftsaussichten.
Alle Anwesenden wussten, dass sie ihren hohen Lebensstandard dem Firmengründer und Finanzgenie Dr. Schneider, zu verdanken hatten. Sie schätzen ihn wegen seiner geistigen Wendigkeit und seiner Kühnheit, entgegen der Meinung aller Experten, Aktien von Firmen zu kaufen, die tot geglaubt waren und plötzlich, zum Segen der NIC, riesige Gewinne machten. Alle fragten sich, wie er es anstellte, fast immer zur richtigen Zeit ein Gespür dafür zu haben, mit welchem Geschäft der meiste Profit zu machen sei. Es schien fast, als hätte er einen direkten Draht zum lieben Gott oder zu irgendeiner unsichtbaren Macht, die das Geschick der Menschheit und ihrer Firmen lenkt.
Natürlich – Schneider hatte auch Feinde. Wie kann es anders sein, wenn man Erfolg hat? Doch sie hassten ihn nicht, weil er der ewige Gewinner war, sondern weil er keinerlei Gewissen zu haben schien und für seinen Erfolg über Leichen ging. Marode Firmen wurden zu einem Spottpreis erworben, kurzfristig finanziell aufgeputscht und nach erfolgreicher Auferstehung für viel Geld abgestoßen. Ob die Angestellten der Firmen danach auf der Straße saßen oder sich vor Verzweiflung das Leben nahmen, weil sie ihre Mieten und den Unterhalt der Familien nicht mehr bezahlen konnten, kümmerte ihn wenig. Der Profit war das Einzige, was für ihn zählte und ihn belebte. Gemäß diesem Grundsatz wählte er die Mitarbeiter aus, die für ihn arbeiten durften. Er ließ sie strammstehen, wann immer es nötig war, und warf sie raus, wenn ihm ihre Umsätze nicht mehr gefielen.
Dennoch gab es einen Mann an Schneiders Seite, dem er vertraute, sein alter Studienkamerad Gerd Blome. Blome war groß, gut aussehend, trug fülliges, gegeltes Haar und stellte damit einen nicht zu übersehenden Kontrast zu Schneider dar. Dieser grämte sich um jedes einzelne Haar, das ihm verloren ging, und es waren viele, die sich im Laufe der Jahre verabschiedet hatten.
Blome war eher ein entspannter Typ und konnte über manches hinwegsehen, das nicht hundertprozentig war. An diesem 27. Februar war er jedoch nicht locker, sondern hatte ganz und gar die Fassung verloren. Er saß zusammengesunken am Ende der langen Tischreihe, stützte seinen Kopf auf und hörte kaum zu. Er versuchte, nach einer durchzechten Nacht einen pechrabenschwarzen Kater auszukurieren und vernahm die ganze Zeit unterschwellig einen penetranten Trommler in seinem Hirn. Alkohol gehörte, wie wechselnde Partnerinnen, zu seinem Leben dazu, doch dieser verdammte Kater war wahrlich keine harmlose Miezekatze mehr, sondern bestand darauf, so lange Blomes unwillkommener Gast zu bleiben, bis alle anderen seine Geburtstagsparty vergessen hatten.
Wenn Blome nüchtern war, was ab und zu vorkam, galt er neben Schneider als einer der raffiniertesten Köpfe in der Branche. Er verfügte über
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