Hueter Der Macht
und Schutzwällen. Es war eine uralte Befestigungsanlage, die nicht aus einer, sondern eigentlich aus fünf Burgen bestand – die alle zu unterschiedlichen Zeiten erbaut worden waren. Nun, nach Generationen von Umbauten und Anbauten, waren die Burgen durch Mauern, Gassen und Höfe so eng miteinander verbunden, dass sie eine einzige uneinnehmbare Festung bildeten.
Umgeben von reichem Ackerland, Waldstücken und dem sanft geschwungenen Bogen der Vienne, befand sich Chauvigny auf einem Hügel, der den Blick über die Landschaft freigab – es war eine der schönsten und eindrucksvollsten Befestigungsanlagen ganz Europas. Selbst aus dieser Entfernung konnte Thomas die Flaggen und Wimpel sehen, die auf den Türmen und Mauern flatterten. Trotz seiner Beteuerungen in den letzten Wochen, dass er sich nur noch Gott und nicht mehr den Engländern verpflichtet fühlte, konnte Thomas ein Gefühl der Erregung und frohen Erwartung nicht unterdrücken. Diese Festung barg so viele Freunde… so viele Erinnerungen…
Thomas erschauerte und blickte sich um. Das schöne Wetter und die herrliche Sicht würden nicht anhalten – vom Fluss zog bereits herbstlicher Abendnebel herauf.
Thomas wandte sich an seine Eskorte. »Ihr könnt jetzt umkehren«, sagte er, die Gestalten von Männern und Pferden drangen nur undeutlich durch den Nebel wie Felsen in einem tiefen trüben Fluss. »Ich kann für eure Sicherheit nicht garantieren – und natürlich auch nicht für meine«, fügte er mit einem leisen, freudlosen Lachen hinzu. »Mehr könnt ihr nicht für mich tun. Kehrt zu eurem Herrn zurück und überbringt ihm meinen Dank. Ich wünsche euch eine sichere Reise.«
Die Soldaten, die Thomas am nächsten waren und die er erkennen konnte, tauschten kurze Blicke aus, dann nickte einer von ihnen, der Feldwebel, und salutierte. »Geht in Frieden, Bruder«, sagte er.
»Frieden?«, sagte Thomas. »Ich bezweifle, dass einer von uns jemals wieder Frieden finden wird.«
Doch auch er hob die Hand, lächelte knapp und wandte sich mit seinem Pferd gen Chauvigny, den Namen und Vertrauten seiner Jugend entgegen.
Thomas glaubte, hinter sich noch einige Zeit Hufgetrappel zu hören und vielleicht sogar das Klappern einer Gebissstange im Maul eines Pferdes, doch dann herrschte Stille, und er hatte das Gefühl, Philipps Eskorte sei lediglich ein Traumgebilde gewesen.
Es gab nur ihn, sein Pferd und den Nebel.
Und die Vergangenheit, die sich ihm langsam näherte. Thomas fröstelte, auch wenn er nicht wusste, ob aus Furcht oder Erwartung, und gab seinem Pferd die Sporen.
Er ritt vielleicht eine Stunde oder zwei, länger nicht. Die Nacht hatte sich noch nicht ganz herabgesenkt, denn durch den Nebel schimmerte immer noch trübes Licht, aber sie würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Sonst gab es nicht viel zu sehen.
Hin und wieder lichtete sich der Nebel so weit, dass Thomas die borstigen Stoppelfelder des Herbstes sehen konnte, die darauf warteten, im November umgepflügt und mit der Wintersaat bestellt zu werden.
Thomas bezweifelte jedoch, dass in diesem Herbst viel gepflügt oder gesät werden würde – und das bedeutete, dass Elend und Hunger auch im nächsten Jahr noch fortdauern würden, vielleicht sogar noch länger.
Fürwahr, ein Werk des Bösen.
Die Dämmerung hüllte ihn mehr und mehr ein, und Thomas zitterte und zog die Kapuze fester um seinen Kopf. Er hätte die Festung doch sicher längst erreichen müssen! Wo waren denn nur die Engländer? Gab es in diesem verfluchten Nebel irgendetwas Lebendiges?
Schlichen sich womöglich Dämonen an ihn heran, bereit, ihn anzuspringen und ihn mit ihren Fängen zu durchbohren, oder schlimmer noch, ihren Lügen?
Thomas drehte sich im Sattel um, doch außer ein paar Bäumen mit knorrigen, kahlen Ästen, die links von ihm aufragten, war nichts zu sehen.
Er wandte sich nach rechts. Auch dort konnte er außer ein paar Bäumen nichts erkennen. Er musste in eines der Waldstücke bei Chauvigny geritten sein.
Gütiger Herr im Himmel lenke meine Schritte!
Ein paar Blätter fielen raschelnd zu Boden, und dann ertönte von irgendwoher ein leises Lachen – oder war es ein Zischen?
Sein Herz hämmerte. Er brachte sein Pferd zum Stehen und versuchte verzweifelt, durch die dichten, feuchten Tröpfchen des Nebels etwas zu erkennen.
Jetzt war selbst sein Pferd unruhig geworden. Thomas spürte, wie sich die Muskeln des Tieres unter seinem Sattel anspannten, und er verkürzte die Zügel, packte sie
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