Hueter Der Macht
Verkündigung
Im einundfünfzigsten Jahr der Regentschaft Eduard III.
(Samstag, 27. März 1378)
Thomas erzählte niemandem von seinem Erlebnis im Petersdom. Wenn Satans Geschöpfe – die Dämonen – unter den Menschen weilten, wer wusste dann, wer von seinen Mitbrüdern für Gott war und wer für das Böse? Also schwieg Thomas, versenkte sich in seine Hingabe an Gott und seine Studien in der Bibliothek des Konvents Sant’ Angelo. Hier befanden sich die alten Bücher und Handschriften, die ein wenig Licht in die Worte des Erzengels bringen konnten. Hier mochte der Schlüssel zu finden sein, wie er dem Herrn dienen konnte.
Er beobachtete und hörte zu und lernte so viel er konnte.
Seine Füße und Hände heilten, und irgendwie war Thomas enttäuscht darüber, denn es hätte ihm gefallen, wenn ein Schmerz oder eine Steifheit der Glieder zurückgeblieben wäre, die ihn immerzu an seine Pflichten Gott und nun auch dem heiligen Michael gegenüber erinnert hätten.
In dem Jahr, das seiner ekstatischen Vision folgte, erschien der Erzengel Thomas nicht noch einmal. Das bekümmerte ihn aber nicht weiter. Er wusste, dass der Herr und seine Gesandten, die Engel, erneut zu ihm sprechen würden, wenn die richtige Zeit gekommen wäre.
Unterdessen tat Thomas, was er konnte, um dafür zu sorgen, dass er stark und fromm genug wurde, um dem Herrn zu dienen.
Prior Bertrand betrachtete den Neuankömmling mit einiger Sorge. Er hatte von Vater Richard Thorseby, dem Ordensgeneral des dominikanischen Ordens in England, Weisung erhalten, Bruder Thomas Neville genau zu beobachten. Thorseby, ein strenger Zuchtmeister, vertraute Thomas’ Motiven für das Eintreten in den Orden nicht ganz und zweifelte an seiner Frömmigkeit.
Was immer Thomas’ Gründe für das Eintreten in den Orden gewesen waren – und Bertrand stimmte Thorseby zu, dass sie schwerwiegend genug waren, um Thomas’ Eignung für den Orden anzuzweifeln –, konnte Bertrand an Thomas’ Frömmigkeit jedoch keinen Makel finden. Er schien geradezu besessen davon, Gott zu dienen. Von jedem Mönch wurde erwartet, dass er zu allen sieben Gebetsstunden des Tages in der Kapelle erschien, beginnend mit der Frühmette in den kalten Stunden vor der Morgendämmerung und endend am späten Abend mit der Komplet, dem Abendgebet. Doch der dominikanische Orden verlangte nicht nur Frömmigkeit von seinen Mitgliedern, sondern auch, dass sie ebenso viel Zeit dem Studium wie dem Gebet widmeten, wenn nicht sogar noch mehr, und sah deshalb auch einmal darüber hinweg, wenn ein Bruder zwei oder drei der Andachten während des Tages ausließ. Die Dominikaner hatten sich Gott geweiht, brachten ihre Gottergebenheit jedoch vorwiegend dadurch zum Ausdruck, dass sie Lehrer und Priester wurden, die die Ketzerei – das Abweichen vom Glauben – bekämpften, wo immer sie sie antrafen.
Doch Thomas ließ kein einziges Gebet aus. Nicht nur erschien er zu jeder Gebetsstunde, er war auch der Erste in der Kapelle und der Letzte, der sie wieder verließ. Manchmal, wenn Bertrand zur Matutin kam, fand er Thomas in der Kapelle vor, ausgestreckt auf dem Boden vor dem Altar liegend. Bertrand nahm an, dass er die ganze Nacht dort verbracht und für etwas gebetet hatte… was auch immer es sein mochte, das sein Herz beschwerte.
Bei den wöchentlichen theologischen Disputationen, die von den Brüdern des Konvents Sant’ Angelo geführt wurden, an denen manchmal auch Mitglieder anderer Klöster und Kollegien Roms teilnahmen, war Thomas stets der, der am stimmgewaltigsten und leidenschaftlichsten seine Ansichten vertrat. Selbst wenn die Disputationen eigentlich schon beendet waren und die anderen Brüder zwanglos miteinander plauderten und Klatsch austauschten oder durch das Kloster wanderten und sich an der Wärme der Sonne erfreuten und den Duft der Kräuter genossen, die die Wege säumten, suchte Thomas diejenigen auf, die seinen Ideen und Ansichten widersprochen hatten, und führte das Streitgespräch so lange fort, bis seine Opfer bereit waren, nachzugeben und sich zurechtweisen zu lassen.
Bertrand musste sich eingestehen, dass Thomas ihm Angst machte. Er hatte irgendetwas an sich, das ihn zutiefst beunruhigte.
Hin und wieder erinnerte er ihn an Wynkyn de Worde. Und das gefiel Bertrand nicht. Er hatte lange darum gekämpft, Wynkyn de Worde vergessen zu können. Diesen Mann – ebenso strenggläubig wie Thomas – hatte Bertrand noch mehr gefürchtet, obwohl er sich in manch düsterem
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