Hueter Der Macht
lieben. Andere verkaufen sich für ein paar Münzen an der Straßenecke – diese Frauen haben weder Liebe noch Achtung oder Ehrerbietung verdient.«
Daniel nickte ernst, als würde er einer Unterrichtsstunde in der Kapelle lauschen. »Und die Frau, die Ihr geliebt habt?«
Alice? Was sollte er darauf erwidern? Der heilige Michael hatte ihm gesagt, sie sei eine Sünderin gewesen, doch Thomas tat sich schwer damit, sie vor diesem Jungen abzuurteilen. Alice und er, beide hatten sie gesündigt.
»Ich bin der Falsche für diese Fragen, Daniel. Was Liebesdinge angeht, kenne ich mich nicht sehr gut aus.«
»Aber…«, sagte Daniel, sein Gesicht puterrot vor Verlegenheit. »Wie ist es…«, er senkte die Stimme zu einem Flüstern, »eine Frau tatsächlich zu lieben?«
»Du meinst, mit einer Frau das Lager zu teilen?«
Daniel nickte und senkte den Blick.
»Wenn sie achtbar ist und du sie liebst, dann ist es ein wahrer Segen«, sagte Thomas schließlich. Im Unterschied zu Lancaster verzichtete er auf pikante Einzelheiten.
»Und wenn sie nicht achtbar ist und ich sie nicht liebe?«
»Dann ist es wie die Paarung von Tieren, ohne wahre Befriedigung.« Wovor ich mich hüten muss, wie mir der heilige Michael gesagt hat.
»Bruder«, sagte Daniel noch leiser als zuvor, »ich muss gestehen, dass mich fleischliche Gelüste plagen…«
»Ich bin nicht derjenige, dem du dies gestehen solltest, Daniel«, sagte Thomas und fügte etwas sanfter hinzu: »Du bist noch jung. Urteile nicht zu streng über dich.«
Du bist noch jung und musst sie noch kennenlernen, diese Falle, die sich Liebe nennt.
Außerhalb des Konvents feierten die Römer weiter die Rückkehr des Papstes. Gregor machte keinerlei Anstalten, seinen Sitz wieder zurück nach Avignon zu verlegen, und die Menschen konnten wieder an der päpstlichen Messe im Petersdom teilnehmen. An Sonn- und Feiertagen drängten sich die Stadtbewohner im großen Hauptschiff der Basilika, ihre Augen leuchtend vor Hingabe, während sie wertvolle Reliquien und Talismane in den Händen hielten. An den gewöhnlichen Wochentagen versammelten sich die gleichen Menschen auf dem Vorhof des Doms und den Straßen, die zur Basilika führten, und verkauften dort Abzeichen und heilige Andenken an die Pilger, die nach Rom strömten. Die Anwesenheit des Papstes erfüllte die Römer nicht nur mit einer tiefen Frömmigkeit, sie füllte auch ihre Geldbeutel. Gregor war etwa Mitte fünfzig, doch er wirkte recht rüstig und mochte noch ein Jahrzehnt oder länger leben. Die Römer waren entzückt. Der Papst schien sich nun wieder dauerhaft in Rom eingerichtet zu haben, und hin und wieder konnte man römische Straßenarbeiter, Straßenmädchen oder Straßenkehrer dabei beobachten, wie sie eine obszöne Geste in Richtung Frankreich machten. Des Nachts waren die römischen Tavernen von triumphierenden Gesprächen über die Niederlage des französischen Königs Johann erfüllt. Als Gregor mit seinem Gefolge aus Avignon abgereist war, hatte Johann seinen Einfluss auf eine der mächtigsten Institutionen Europas eingebüßt. Es hieß, Johann sei außer sich vor Wut und schmiede Pläne, um seine Macht über den Papst zurückzugewinnen. Jeder in Rom wusste, dass Gregor zu einem kritischen Zeitpunkt in Johanns Krieg gegen den englischen König Eduard III. nach Rom »geflohen« war. Der französische König setzte jedes nur denkbare diplomatische Mittel ein, um an genügend Gelder und Soldaten zu gelangen, um Eduards voraussichtliche Rückeroberung Frankreichs zu verhindern.
Das römische Volk scherte sich einen feuchten Kehricht um die Misere des französischen Königs – und ebenso die des englischen. Sie hatten ihren Papst zurück, Rom war wieder der Mittelpunkt der Christenheit – mit all den finanziellen Vorzügen, die damit verbunden waren –, und sie würden verdammt noch mal nicht zulassen, dass ihnen irgendein französischer Schweinehund ihren Papst wieder wegnahm.
Die meisten französischen Kardinäle, die einen Großteil des Kollegiums der Kardinäle ausmachten, waren maßlos verärgert über Gregors Absicht, in Rom zu bleiben – und über das römische Volk, das sie fürchteten. Nach dem Papst waren die Kardinäle die mächtigsten Männer der Kirche und damit der gesamten Christenheit. Sie lebten und handelten als unabhängige Herrscher, doch um ihre Macht dauerhaft zu sichern, mussten sie innerhalb des päpstlichen Hofes ein Leben an der Seite des Papstes führen. Sie waren demnach in Rom
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