Hüter der Macht
Bewusstsein gedrungen. Seit man sie regelrecht aus ihrer Zelle gezerrt, nach oben getrieben und ihr dabei mitgeteilt hatte, dass man heute über sie zu Gericht sitzen würde, lag ein entsetzlicher Albdruck auf ihrer Seele.
Genau eine Woche war es her, dass sie ihren Sohn zur Welt gebracht und Sandro in ihren Armen gehalten hatte. In diesen Tagen hatte sie viel Trost aus dem Wissen gezogen, dass Lionetto ihrem Kind nichts mehr anhaben konnte. In der Gewissheit, dass es bei Sandro war, hatte sie das Unabänderliche angenommen und nicht mehr aufbegehrt. Das Schicksal wollte es so und sie war bereit gewesen, sich zu fügen.
Doch nun, auf dem Weg zum Gericht, fand sie nichts mehr von dem Frieden in sich, den sie nach der Rettung ihres Kindes mit ihrem Schicksal geschlossen hatte.
Tessa fürchtete, dass man sie womöglich noch am selben Tag dem Henker übergab, damit er ihr draußen vor der Stadt die Schlinge um den Hals legte. Sie konnte ihre Unschuld beteuern, sie konnte Lionetto Vasetti beschuldigen, dass er sie zum Werkzeug seiner mörderischen Tat gemacht hätte, doch niemand würde ihr Glauben schenken. Die Richter würden solche Vorwürfe für einen weiteren Beweis ihrer verderbten Seele halten und sie auf der Stelle dem Folterknecht überantworten, damit sie endlich ihren Giftmord gestand. Und unter diesen Qualen konnte man ihr alles abpressen, was man hören wollte, das wusste sie nur zu genau.
Aber sie wollte nicht sterben! Sie war doch unschuldig! Sie wollte leben! Wollte ihren kleinen Jacopo in den Armen halten und bei Sandro sein!
»Verdammt!«, fluchte Nofrio und zog ungeduldig an der Kette. »Dass wir diese Woche schon wieder einen vergessen haben! Das kann uns unsere Stelle kosten, ist dir das klar?« Er warf Bartolo über den Kopf der Gefangenen hinweg einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Und ob mir das klar ist!«, knurrte dieser unwirsch, während sie von der breiten Straße abbogen und, wie befohlen, die Abkürzung durch eine der schmalen Seitengassen nahmen. »Ich könnte schwören, dass ihr Name nicht auf der Liste gestanden hat!«
»Hat er aber!«, erwiderte Nofrio voller Groll. »Ich hab’s genau gesehen! Meister Vicenzo hat mir den verdammten Wisch unter die Nase gehalten. Gib doch zu, dass du nicht sorgfältig genug hingeschaut hast, als er dir die Liste in die Hand gedrückt hat!«
»Einen Dreck werde ich tun!«, blaffte Bartolo zurück. »Ich habe mir die Namen genau gemerkt. Fünf waren es. Und der von dem Weib stand nicht drauf!«
»Ich werde meinen Kopf nicht für deine Blödheit hinhalten, das lass dir gesagt sein!«, schimpfte Nofrio weiter und zerrte Tessa mit mehr Gewalt weiter, als nötig gewesen wäre. »Wenn wir nachher … Was ist denn das?« Er stockte.
Tessa blinzelte. Noch immer fiel es ihr schwer, sich nach der monatelangen Dunkelheit im Kerker an das helle Licht zu gewöhnen. Doch dann erkannte sie, was die schmale Gasse versperrte, durch die sie gehastet waren.
Ein alter Leiterwagen, offenbar viel zu hoch mit Heuballen beladen, war hinter einem Tordurchgang umgekippt. Seine Ladung war überall verstreut. Fast hüfthoch lagen die Heubündel im Dreck der schmalen Gasse. Zwei Tagelöhner in abgerissener Kleidung versuchten vergeblich, Ordnung zu schaffen und den Wagen wieder auf die Räder zu stellen.
»He, beeilt euch gefälligst, die Gasse freizumachen!«, rief Nofrio den Männern zu. »Wir haben unsere Zeit nicht gestohlen!«
Dann ging alles blitzschnell.
Die beiden Tagelöhner fuhren herum. Die Gesichter unter ihren breiten Kappen waren rußverschmiert. Mit schnellen Schritten kamen sie näher.
Tessa spürte, wie Nofrio neben ihr unruhig wurde, und drehte sich um. Da tauchten auch schon hinter ihnen aus dem Tor drei weitere Gestalten auf. Alle trugen einen billigen Lucco mit Kapuze, die sie trotz der Wärme tief übers Gesicht gezogen hatten.
Tessa sah ein Aufblitzen. Waren das Dolche? Die Wärter griffen zu ihren Waffen, doch schon packten die Angreifer sie von hinten.
»Kein Laut oder wir stechen euch ab!«, hörte Tessa eine Stimme hinter ihnen zischen. »Aber wenn ihr keinen Ärger macht, wird euch nichts geschehen!« Mehrere Hände fuhren unter Tessas Hüftgurt und zerrten die Wärter von der Gasse weg in das Tor.
Tessa wusste nicht, wie ihr geschah. Hilflos stolperte sie zwischen den Männern her, die Augen vor lauter Angst weit aufgerissen.
Bartolo und Nofrio dachten nicht daran, sich gegen diese Übermacht zur Wehr zu setzen. Widerstandslos ließen sie
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