Hüter der Macht
Moravi.
»Ihr hirnlosen Rindviecher!«, schrie der Kerkermeister. »Wie könnt ihr tumben Kerle bloß übersehen, dass auch Nozzo Cannetti, dieser miese kleine Einbrecher, auf der Liste der Gefangenen steht, die das Gericht für heute vorgeladen hat! Luigi, Obizo! Holt euch den Kerl und seht zu, dass ihr ihn schleunigst zum Gericht bringt!«
Wenige Augenblicke später kamen zwei Wärter aus dem Gefängnis gestürmt. Sie zerrten einen schlaksigen, kaum zwanzig Jahre alten Mann zwischen sich her und zu dritt verschwanden sie durch das Tor.
Sandro, der das Ganze mit wenig Interesse beobachtet hatte, spürte plötzlich, wie ein Blitz ihn durchzuckte. Was wäre, wenn er …?
Er musste sich zwingen, nicht aus der Rolle zu fallen und aufzuspringen, so erregt war er über seinen Einfall.
Der Rosenkranz glitt achtlos aus seinen Händen, als er auf den Eingang starrte, als könne er Jacopo zwingen, dort aufzutauchen. Und tatsächlich – wenig später kamen die Hebamme und Jacopo ins Freie. Jacopo trug die Holzkiste auf den Schultern, die Kapuze seines Umhangs hatte er weit nach vorn über das Gesicht gezogen.
Während Piera Tossa beim Kerkermeister stehen blieb und ein paar Worte mit ihm wechselte, huschte Jacopo schnell und mit abgewandtem Gesicht an ihm vorbei. Dann gab er Sandro das verabredete Zeichen, dass Tessa die Geburt gut überstanden hatte und dass das Kind gesund und sicher im Hohlraum der Kiste lag.
»Ihr könnt nun gehen, Pater!«, rief Jacopo ihm so laut zu, dass der Kerkermeister es hören konnte. »Für Euch gibt es nichts mehr zu tun. Das Kind ist schon tot auf die Welt gekommen. Aber die Mutters hat’s überlebt.«
Sandro nickte nur und verließ gemessenen Schrittes den Hof. Hinter der nächsten Straßenecke blieb er stehen, nahm die Kieselsteine wieder aus dem Mund und wartete auf Jacopo und die Hebamme. Ein letzter Geldbeutel wechselte den Besitzer, dann trennten sich ihre Wege. Piera Tossa hielt auf die erstbeste Schenke zu, die zu dieser frühen Morgenstunde schon geöffnet hatte.
»Du hast einen Sohn«, raunte Jacopo Sandro zu. »Ein stattliches rosiges Kerlchen. Zum Glück hat er gar keine Ähnlichkeit mit mir.«
Bewegt drückte Sandro den Arm seines Freundes, dann strich seine Hand über die Holzkiste, in deren Versteck sein Sohn Jacopo in tiefem Laudanumschlaf lag.
»War es schlimm für Tessa? Wie geht es ihr?«
»Eine leichte Geburt war es sicherlich nicht, obwohl ich von solchen Frauensachen nicht viel verstehe. Aber auch die alte Vettel meint, dass Tessa sich gut gehalten hat. Sie hat nicht allzu viel Blut verloren«, beruhigte Jacopo ihn. »Aber jetzt müssen wir uns beeilen, damit dein Sohn so schnell wie möglich zur Amme kommt. Ich weiß nicht, wie lange die betäubende Wirkung hält, die Piera Tossa dem kleinen Jacopo verpasst hat.«
Eiligen Schrittes machten sie sich auf den Rückweg nach Santo Spirito. Sicherheitshalber ging Sandro nicht mit in das Haus der Amme, sondern überließ es Jacopo, ihr seinen kleinen Sohn zu bringen und ihr den reichlich bemessenen Lohn für ihre Dienste auszuhändigen. Erst dann zog er Jacopo beiseite. »Als ich dort draußen auf euch gewartet habe, da ist mir eine Idee gekommen«, sagte er aufgeregt.
Jacopo musterte ihn mitleidig. »Wenn du meinst, dass wir Tessa …«
Sandro unterbrach ihn rüde. »Hör mich erst einmal an, bevor du dir ein Urteil erlaubst. Also, wie viel Zeit bleibt uns noch?«
Jacopo wiegte den Kopf hin und her. »Das Kind ist da, also wird es nicht mehr lange dauern, bis man Tessa vor den Richter führt. Soweit ich weiß, gesteht man Wöchnerinnen nur ein paar Tage Erholung zu. Höchstens eine Woche.«
»Umso schneller müssen wir handeln!«, drängte Sandro.
Jacopo verdrehte die Augen. »Also gut, dann schieß mal los!«
17
D ie Runde der Spieler hatte sich aufgelöst. Nur Vicenzo Moravi saß im Hinterzimmer des Lombrico noch an dem Tisch, an dem er in den letzten Stunden fast einen halben Jahreslohn verloren hatte. Den Löwenanteil schuldete er einem bulligen Kerl namens Fabio. Aber auch bei diesem zwergenhaften Besitzer der Schenke stand er mit anderthalb Florin in der Kreide.
Fassungslos starrte er in seinen Becher und fragte sich, wie er es bloß hatte so weit kommen lassen. Welcher Teufel hatte ihn geritten, sich auf das Angebot dieses Fabio einzulassen, ihm großzügig Kredit einzuräumen? Warum war er nicht einfach aufgestanden, als er nicht eine einzige Münze mehr gehabt hatte, und hatte sich mit seiner
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