Huff, Tanya
öffnete den Mund,
schloß ihn wieder und sagte dann endlich, wobei sich seine Worte fast
überstürzten: „So schwierig ist es denn auch wieder nicht. Sie würden das auch
schaffen."
Mike ließ das eine Weile sacken, lächelte dann und
schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich an die Tage und Nächte, die nach der
Wandlung gekommen waren, die er von Vicki getrennt hatte verbringen müssen.
„Nein. Ich könnte es nicht."
„Sie sind noch nicht einmal wiedergekommen und haben sich
bei dir bedankt?"
„Wenn es dir nichts ausmacht - ich bin eigentlich sehr
froh, daß sie verschwunden sind." Die Toten hatten aufgehört zu
kreischen, als das Herz der Ärztin aufgehört hatte zu schlagen, und nur das
Herz der Ärztin: Diesmal war trotz der immensen Intensität des Schreis niemand
sonst gestorben. Am Ende waren sie bei der Durchsetzung ihrer Rache - oder
ihres Rechts - chirurgisch präzise vorgegangen. Das einzige andere Opfer war
Henry gewesen - vielleicht, weil er so nah am Ort des Geschehens gewesen war,
oder aber, weil er bewußt mitbekommen hatte, was vor sich ging. Er hatte all
seine Kräfte aufbieten müssen, um zitternd und würgend, aber immerhin aufrecht
aus dem Schrank zu treten. Am liebsten wäre er auf allen Vieren gekrochen. Er
hatte verstehen können, warum die Ärztin elf Stockwerke tief gesprungen war,
um dem Schrei zu entkommen.
Die Auswirkungen dieser schrecklichen Minuten konnte Vicki
immer noch an seinem Gesicht ablesen. Sie streckte die Hand aus und legte sie
nur ein paar Sekunden lang auf die Henrys.
Henry starrte auf Vickis Hand und dann in das Gesicht der
Freundin. Noch vor weniger als einer Woche hätte eine Geste wie diese in ihm
den Wunsch geweckt, sie zu vernichten. Nun tat es ihm leid, daß es bei einer
kurzen Berührung bleiben mußte. Sechs Tage nur in 450 Jahren, aber diese sechs
Tage hatten die Art, in der Henry sich definierte, von Grund auf verändert.
„Schreibst du eigentlich immer alle Regeln um?"
„Wenn die Regeln schlecht sind."
Henry schüttelte den Kopf. „Ich frage mich, wie wir es nur
all die Jahre ohne dich geschafft haben."
Vicki schnaubte. „Ohne uns, Henry. Die meisten unserer Art
wandeln sich der Leidenschaft wegen, das hast du selbst erzählt, und niemand
ist so leidenschaftlich wie ein Teenager. Du warst siebzehn. Wie alt waren die
anderen? Vielleicht bin ich die einzige Erwachsene, die in all den
Jahrhunderten dazugekommen ist."
„In dieser Existenz bist du noch ein Kind."
Sie grinste. „Zieh keinen Flunsch. Das ist schon bei einem
sterblichen Mann ziemlich unattraktiv und erst recht bei einem der
unsterblichen Untoten."
„Jahrhundertealte Traditionen ...", setzte Henry an,
aber Vicki unterbrach ihn rüde.
„... haben sich so sehr doch gar nicht geändert! Wir sind
immer noch einsam jagende Raubtiere, aber wir wissen wenigstens, weswegen. Der
Geruch des Blutes eines anderen unserer Art treibt uns zu einem gefährlichen
Kontrollverlust. Das heißt, wir würden wahllos töten, es wäre unmöglich, uns
zu übersehen, und so würde man uns früher oder später aufstöbern und
vernichten; unsere Stärke wäre kein Schutz, denn sie sind zahlenmäßig
überlegen. So gehen wir allein auf die Jagd, um unser aller Sicherheit zu
gewährleisten. Aber das heißt nicht, daß wir auch allein existieren müssen.
Wenn wir uns genügend Zeit nehmen, können territoriale Imperative überwunden
werden."
Henry hob die Hand, die Handfläche nach oben. Vicki ahmte
ihn nach. Sie bewegten ihre Hände aufeinander zu, aber sie berührten einander
nicht. „Größtenteils überwunden", stellte Henry dann mit einem traurigen
Lächeln fest und ließ die Hand wieder fallen.
Vicki nickte; ihr Lächeln war vielleicht eher reumütig als
traurig zu nennen. „Größtenteils", stimmte sie dem Freund zu. „Ehe Mike
zurückkommt,
möchte ich mich noch einmal für das bedanken, was du da
auf der Lichtung für mich getan hast." Ihr Gesichtsausdruck änderte sich,
als sie an jene Nacht zurückdachte, an das, was sie um ein Haar zerstört hätte.
„Ich konnte mich nicht bremsen. Ich hätte Sullivan umgebracht, ganz gleich, wie
sehr mich Mike dafür gehaßt hätte."
„Ich weiß. Du warst vielleicht beim Übertritt in deine
neue Existenz erwachsen, aber in ihr selbst bist du noch ein Kind. Mit der Zeit
wird deine Selbstbeherrschung besser werden. Selbstbeherrschung ist für uns
alle das Härteste und am schwersten zu Lernende." Er sah hinunter auf die
Lichter der Stadt, seiner Stadt, und
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