Hundeelend
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Am Dienstag vor Heiligabend spazierte Der Fall des schwanzköpfigen Mannes ins Kein Alibi, den besten Krimibuchladen in ganz, na ja, sagen wir, Belfast.
Er hatte Glück, mich überhaupt anzutreffen. Da die Geschäfte eher schleppend liefen, hatte ich beschlossen, den Job hinter der Kasse meiner Mutter anzuvertrauen; zumindest in den Vormittagsstunden zwischen neun und halb zwölf, in denen sie sich von Schnaps und anderen Drogen fernhielt. Hätte er den Laden nur zehn Minuten früher betreten, hätte er unweigerlich auf dem Absatz kehrtgemacht, denn nüchtern ist meine Mutter unerträglich. Ein Charakterzug, der sich seit ihrem Schlaganfall noch verstärkt hat. Mutter war immer schon bösartig und gemein. Allerdings waren ihre verächtlichen Blicke, ihre Wutanfälle und gewalttätigen Ausbrüche, ihr ätzender Spott bisher nächsten Familienangehörigen vorbehalten. Seit ihrem Schlaganfall hat sich ihr Radius beträchtlich erweitert; er erstreckt sich inzwischen auch auf entfernte Verwandte, zufällige Bekanntschaften, die meisten anderen Angehörigen der menschlichen Rasse sowie diverse Hunde. Mutter tickt einfach etwas anders. So wird bei einem Schlaganfall üblicherweise nur eine Körperhälfte in Mitleidenschaft gezogen. Bei ihr dagegen
sind rechtes Bein und linker Arm gelähmt, wodurch sie völlig windschief wirkt, egal aus welchem Blinkwinkel man sie betrachtet – was die meisten Menschen aber ohnehin tunlichst vermeiden. Außerdem schwankt sie beim Gehen bedrohlich von einer Seite zur anderen, als wäre sie betrunken. Es ist lustig, ihr dabei zuzuschauen. Beim Saufen benötigt sie jetzt nur noch das halbe Quantum, um zu torkeln. Und die Hälfte davon sabbert sie sowieso auf ihre Bluse, denn durch den Schlaganfall hat sie jedes Gefühl in der Unterlippe verloren.
Wie der Zufall so spielt, betrat Der Fall des schwanzköpfigen Mannes jedoch genau in dem Moment den Laden, als Mutter ihren Dienst beendete. Er hielt ihr sogar die Tür auf, während sie hinaushumpelte. Ich habe nach ihrem Schlaganfall die Rollstuhlrampe vorm Eingang entfernen lassen, damit es sie mehr Mühe kostet, ihren Rollator und ihr steifes Bein über die hohe Stufe auf den Gehsteig zu hieven. Der Mann mit dem Kinnbart und den über die Stirnglatze gekämmten Haaren lächelte, bot ihr seinen Arm an und sagte: »Darf ich Ihnen helfen, Verehrteste?«
Mutter funkelte ihn nur kurz an, bevor sie fauchte: »Vehpisch disch!«
Aufgrund ihrer Gesichtslähmung ist ihre Aussprache nicht mehr allzu deutlich. Schon vor dem Schlaganfall sah sie aus, als hätte sie einen schweren Treffer von Sonny Liston kassiert; jetzt klingt sie auch so.
Mutters neuer Job – vor ihren Freundinnen behauptet sie immer, sie wäre Managerin der Abteilung für Kundenbeziehungen; eigentlich ein guter Witz, wäre es ihr
nicht todernst damit – ist ein trauriges Indiz für die Krise im Buchhandel, die es mir nicht gestattet, eine kompetente Fachkraft zu engagieren. Stattdessen bin ich auf Freunde, meine Familie und einen bescheuerten Studenten angewiesen; sie vertreten mich in den Stunden, in denen ich Inventur mache, E-Mails beantworte, heimlich meiner Exfreundin nachschleiche oder tatsächlich mal ein Buch lese . Denn schließlich muss ich ja wissen, was da draußen vor sich geht. Ich bin kein wirklicher Fan des aktuellen Hypes um skandinavische Kriminalliteratur – wer kann schon genau beurteilen, ob der Autor das Genie ist oder sein Übersetzer? Außerdem fällt es mir schwer, Mitgefühl zu empfinden, wenn irgendwo ein Norweger ermordet wird. Trotzdem erwarten meine Kunden von mir, dass ich die einschlägigen Autoren kenne und ihnen dabei helfe, zielsicher die besten Werke herauszupicken. Von einem Gehirnchirurgen erwartet man ja auch, dass er mit den neuesten Operationsmethoden vertraut ist; und wenn einem ein unfähiger Metzger ein halbes Pfund Knochen und Knorpel als Steak hinklatscht, wäre man ebenfalls schockiert. Gleichzeitig kann man heutzutage jeden größeren Buchladen betreten und fragen, ob Hammetts Der gläserne Schlüssel literarisch höher einzuschätzen sei als Der dünne Mann , und daraufhin einen Blick ernten, als wäre man ein Psychiatriepatient auf Freigang – womit ich mich übrigens ebenfalls bestens auskenne. Also verwende ich jeden Tag ein bisschen Zeit darauf, mich auf den neusten Stand zu bringen; und morgens ist für mich nun mal die beste Zeit zum Lesen, weil ich noch nicht so weggetreten bin
von all den antipsychotischen Pillen, die
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