Hundert Jahre Einsamkeit
Besenpriemkraut, zum Schluß mit Bimsstein und Lauge, und doch konnten sie das Kreuz nicht wegwischen. Dafür rieben Amaranta und die übrigen Messegänger sich es ohne Schwierigkeit ab. »So ist's besser«, sagte Ursula zum Abschied. »Von jetzt an kann euch keiner mehr verwechseln.« Und sie zogen ab, voran die Knallfrösche loslassende Musikkapelle, und hinterließen im Dorf den Eindruck, daß die Sippe Buendía Samen für viele Jahrhunderte vorrätig hatte. Aureliano Triste mit seinem Aschenkreuz auf der Stirn richtete im Randbezirk des Dorfs die Eisfabrik ein, von dei José Arcadio Buendía in seinem Erfinderwahn geträumt hatte.
Monate nach seiner Ankunft, als er bereits bekannt und beliebt war, suchte Aureliano Triste ein Haus, um seine Mutter und eine unverheiratete Schwester (die keine Tochter des Oberst war) nachkommen zu lassen, und fand Gefallen an dem baufälligen großen Haus, das verlassen an einer Ecke des Platzes stand. Er fragte nach dem Besitzer. Jemand sagte ihm, es sei ein Niemandshaus, in dem vor Zeiten eine einsame Witwe gehaust habe, die sich von Erde und dem Kalk der Wände ernährt habe und die in ihren letzten Lebensjahren nur zweimal gesehen worden sei, als sie mit einem von winzigen künstlichen Blumen umrankten Hut und altsilberfarbenen Stiefeletten den Platz in Richtung Post überschritt, um Briefe an den Bischof abzuschicken. Man sagte, ihre einzige Lebensgefährtin sei eine seelenlose Dienerin gewesen, die Hunde und Katzen totschlug und jedes Tier, das ins Haus schlich, und die Leichen mitten auf die Straße warf, um das Dorfvolk mit dem Fäulnisgestank zu ärgern. So viel Zeit war verflossen, seit die Sonne die leere Haut des letzten Tiers mumifiziert hatte, daß jedermann annahm, die Herrin des Hauses und ihre Dienerin seien lange vor dem Ende der Kriege gestorben, und wenn das Haus noch stand, so, weil man in den letzten Jahren weder einen strengen Winter noch einen verheerenden Wind erlebt hatte. Die rostzerfressenen Angeln, die vom Überfluß der Spinnweben kaum noch zusammengehaltenen Türen, die von der Feuchtigkeit verklemmten Fenster und der von Unkraut und Wildblumen zernagte Fußboden, in dessen Ritzen Eidechsen nisteten und alle Arten von Ungeziefer, schienen die Auffassung zu bestätigen, daß dort zumindest seit einem halben Jahrhundert kein Menschenwesen mehr hauste. Der draufgängerische Aureliano Triste brauchte nicht so viele Beweise, um zur Tat zu schreiten. Mit der Schulter rammte er die Haustür, und schon stürzte das wurmstichige Holzwerk zusammen — ein lautloses Geriesel aus Staub, Erde und Termitennestern. Aureliano Triste blieb auf der Schwelle stehen und wartete, bis der Nebel sich legte, dann sah er mitten im Wohnzimmer die nach der Mode des vergangenen Jahrhunderts gekleidete knochendürre Frau mit ihrem von wenigen gelblichen Strähnen kaum bedeckten Schädel, mit ihren noch immer schönen großen Augen, in denen die letzten Sterne der Hoffnung erloschen waren, und mit ihrer von der Härte der Einsamkeit zerfurchten Gesichtshaut. Erschüttert von dieser Vision aus dem Jenseits, merkte Aureliano Triste kaum, daß die Frau mit einer altmodischen Armeepistole auf ihn zielte.
»Verzeihung«, murmelte er.
Ratlos blieb sie in der Mitte des von altem Hausrat vollgestopften Wohnzimmers sitzen und musterte Handbreit für Handbreit den vierschrötigen Riesen mit einer Aschentätowierung auf der Stirn, und durch den Staubnebel hindurch sah sie ihn im Nebel einer anderen Zeit mit einer Doppelflinte auf dem Rücken und einem Bündel Kaninchen in der Hand.
»Um der Liebe Gottes willen«, rief sie leise aus. »Es ist nicht gerecht, mich jetzt mit solch einer Erinnerung zu überfallen.«
»Ich möchte dieses Haus mieten«, sagte Aureliano Triste.
Nun hob die Frau die Pistole, zielte mit festem Puls auf das Aschenkreuz und spannte mit unwiderruflicher Entschlossenheit den Hahn.
»Gehen Sie!« befahl sie.
An jenem Abend erzählte Aureliano Triste seiner Familie beim Nachtmahl das Erlebnis, und Ursula weinte bestürzt.
»Heiliger Gott!« rief sie aus, den Kopf mit den Händen pressend. »Sie lebt noch!« Die Zeit, Kriege, die unzähligen täglichen Verhängnisse hatten sie Rebeca vollständig vergessen lassen. Die einzige, die sich keinen Augenblick darüber im unklaren war, daß sie lebte und in ihrer Larvensuppe verfaulte, war die unerbittliche, gealterte Amaranta. Sie dachte an sie bei Tagesanbruch, wenn das Eis des Herzens sie im einsamen Bett weckte, sie
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