Hundert Jahre Einsamkeit
und mit einem Anflug von Distinktion, der den Jahren und den bösen Erinnerungen widerstand, schien Amaranta das Aschenkreuz der Jungfräulichkeit auf der Stirn zu tragen. In Wirklichkeit trug sie es an der Hand, in der schwarzen Binde, die sie nicht einmal zum Schlafen ablegte und die sie selber wusch und bügelte. Ihr Leben verfloß beim Besticken ihres Totenhemds. Man hätte meinen mögen, sie sticke tags und entsticke nachts, und nicht etwa in der Hoffnung, auf diese Weise die Einsamkeit niederzuzwingen, sondern um sie im Gegenteil aufrechtzuerhalten.
Fernandas größte Sorge in den Jahren ihrer Verlassenheit betraf Meme, die ihre ersten Ferien zu Hause verbringen und Aureliano Segundo nicht antreffen würde. Die erlittene Kongestion bereitete ihren Befürchtungen ein Ende. Als Meme zurückkehrte, waren ihre Eltern nicht nur übereingekommen, das Kind solle im Glauben gelassen werden, Aureliano Segundo sei nach wie vor ein häuslicher Gatte, es dürfe auch keine Verstimmung im Hause merken. Jedes Jahr spielte Aureliano Segundo zwei Monate hindurch die Rolle des Mustergatten und veranstaltete Feste mit Eis und Gebäck, bei denen die lebhaft-fröhliche Schülerin sich auf dem Klavichord produzierte. Schon damals stand fest, daß sie nur wenig vom Charakter der Mutter geerbt hatte. Eher glich sie einer zweiten Ausgabe Amarantas, als diese noch nicht die Bitternis gekostet hatte und das Haus noch mit ihren Tanzschritten erfreute, mit zwölf, vierzehn Jahren, bevor ihre geheime Leidenschaft zu Pietro Crespi ihr Herz endgültig in eine andere Richtung gelenkt hatte. Doch im Gegensatz zu Amaranta, im Gegensatz zu allen, offenbarte Meme noch nicht das Einsamkeitszeichen der Familie und schien völlig mit der Welt übereinzustimmen, auch wenn sie sich um zwei Uhr nachmittags im Wohnzimmer einschloß und mit unbeugsamer Selbstzucht Klavichord übte. Es lag auf der Hand, daß es ihr zu Hause gefiel, daß sie das ganze Jahr von dem Trubel der Jugendlichen träumte, den ihre Ankunft auslöste, und daß sie sogar etwas von ihres Vaters Neigung zu Sorglosigkeit, Ausgelassenheit und Gastfreiheit besaß. Das erste Anzeichen dieser verhängnisvollen Erbschaft trat in ihren dritten Ferien zutage, als Meme mit vier Nonnen und achtundsechzig Klassenkameradinnen, die sie auf eigene Faust und ohne Vorankündigung zu einem Wochenbesuch in ihr Elternhaus eingeladen hatte, zu Hause eintraf.
»Was für ein Verhängnis!« klagte Fernanda. »Dieses Geschöpf ist ebenso barbarisch wie sein Vater!«
Es galt, bei Nachbarn Betten und Hängematten auszuleihen, neun Runden für die Tagesmahlzeiten einzurichten, bestimmte Badezeiten festzusetzen und irgendwo vierzig Hocker auszuleihen, damit die kleinen Mädchen in blauen Uniformen und Männerstiefeln nicht den ganzen Tag kopflos umhertollten. Die Einladung erwies sich als Fehlschlag, weil die lärmenden Schülerinnen erst zum Frühstück erschienen, wenn das erste Mittagessen begann; und mit dem Abendessen ging es kaum anders, so daß in der ganzen Woche nur ein einziger Spaziergang in die Pflanzungen zustande kam. Bei Einbruch der Nacht waren die Nonnen erschöpft und unfähig, einen Finger zu rühren, um Ordnung zu schaffen, während die Herde der unermüdlichen jungen Mädchen im Innenhof alberne Schullieder sang. Eines Tages hätten sie fast Ursula umgerannt, die immer da helfen wollte, wo sie am meisten störte. Bei einer anderen Gelegenheit regten sich die Nonnen auf, weil Oberst Aureliano Buendía unter der Kastanie pißte, ohne sich um die Anwesenheit der Schülerinnen zu kümmern. Amaranta war nahe daran, Panik zu säen, weil eine der Nonnen in die Küche kam, während sie die Suppe salzte, und nichts anderes zu fragen wußte, als was denn das weiße Pulver sei, das sie handvollweise in den Topf warf.
»Arsenik«, sagte Amaranta.
Am Abend ihrer Ankunft entstand beim Schlafengehen vor dem Klosett ein derartiges Gedränge, daß die letzten erst um ein Uhr in der Frühe an die Reihe kamen. Nun kaufte Fernanda zweiundsiebzig Nachttöpfe, machte aber damit aus dem Nachtproblem nur ein Morgenproblem, weil vom Morgengrauen an eine Schlange Mädchen, eine jede mit ihrem Nachttopf in der Hand, darauf wartete, ihn drinnen spülen zu können. Wenn auch etliche Fieber bekamen und andere sich eine Infektion von Mückenstichen zuzogen, so nahmen die meisten die lästigsten Schwierigkeiten mit bewundernswürdiger Widerstandsfähigkeit in Kauf und tummelten sich in der heißesten Tageszeit im
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