Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
Vom Netzwerk:
Überschwemmung im Haus haben wolle, ja ohne seiner selbst gewahr zu werden, bis Ursula mit dem Mittagessen hereinkam und das Licht löschte.
    »Was für ein Guß!« sagte sie.
    »Oktober«, sagte er.
    Dabei hob er nicht den Blick von dem ersten Fischchen des Tages, weil er gerade die Rubine in die Augenhöhlen einsetzte. Erst als er damit fertig war und es zu den anderen in den Blechtopf legte, machte er sich ans Auslöffeln seiner Suppe. Dann aß er bedächtig das Stück gedünstetes Zwiebelfleisch, den gekochten Reis und die gebratenen Bananenscheiben, alles auf demselben Teller. Weder die günstigsten noch die widrigsten Umstände veränderten seinen Appetit. Nach dem Mittagessen spürte er das Mißbehagen der Muße. Infolge einer Art wissenschaftlichen Aberglaubens arbeitete er nie, badete nie, betrieb die Liebe nie vor Ablauf von zwei Verdauungsstunden, und dieser sein Glaube war so tief verwurzelt, daß er mehrmals Kriegsoperationen verschob, um die Truppe nicht der Gefahr einer Kongestion auszusetzen. So legte er sich in seine Hängematte, schabte sich mit einem Federmesser das Wachs aus den Ohren und schlief nach wenigen Minuten ein. Träumte, er trete in ein leeres Haus mit weißen Wänden, und der Alptraum, er sei der erste Mensch, der es betrete, mache ihn bange. Er besann sich im Traum darauf, daß er das gleiche in der vorigen Nacht und in vielen Nächten der letzten Jahre geträumt hatte, und wußte, daß das Bild beim Erwachen in seinem Gedächtnis verwischt sein würde, weil jener immer wiederkehrende Traum die Tugend besaß, nur innerhalb des gleichen Traums erinnert zu werden. Tatsächlich erwachte Oberst Aureliano Buendía einen Augenblick später, als der Haarschneider an der Werkstattür klopfte, unter dem Eindruck, unfreiwillig wenige Sekunden geschlafen und keine Zeit zum Träumen gehabt zu haben. »Heute nicht«, sagte er zum Haarschneider. »Wir sehen uns Freitag.«
    Sein Bart war drei Tage alt, getigert von weißen Strähnen, aber er hielt Rasieren nicht für notwendig, wenn er sich am Freitag die Haare schneiden lassen würde und dann alles auf einmal besorgen lassen konnte. Der zähe Schweiß des unerwünschten Schlummers erweckte die Furunkelnarben in seinen Achselhöhlen zu neuem Leben. Mittlerweile hatte der Regen aufgehört, doch noch war die Sonne nicht erschienen. Oberst Aureliano Buendía rülpste vernehmlich, und der hochkommende saure Suppengeschmack war wie der Befehl seines Organismus, sich die Wolldecke überzuhängen und aufs Klosett zu gehen. Dort blieb er über dem zähen Gärgestank, der aus dem Holzkasten aufstieg, länger als nötig hocken, bis die Gewohnheit ihn mahnte, es sei Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Während des Wartens besann er sich darauf, daß es Dienstag und daß José Arcadio Segundo wegen des Zahltags auf den Gütern der Bananengesellschaft nicht in die Werkstatt gekommen war. Diese Erinnerung wie alle anderen der letzten Jahre brachte ihn im falschen Augenblick auf den Krieg. Er besann sich darauf, daß Oberst Gerineldo Márquez ihm einmal ein Pferd mit einem weißen Stern auf der Stirn versprochen hatte und nie wieder darauf zurückgekommen war. Dann schweifte er in die verschiedensten Episoden ab, rief sie sich jedoch wertfrei ins Gedächtnis zurück, weil er, da er an nichts anderes denken konnte, gelernt hatte, kühl nachzudenken, damit die unumgänglichen Erinnerungen keines seiner Gefühle verletzten. Als er wieder in der Werkstatt war, sah er, daß die Luft trockener geworden war, und beschloß, ein Bad zu nehmen, doch Amaranta war ihm zuvorgekommen. So machte er sich denn an das zweite Fischchen des Tages. Er lötete gerade den Schwanz, als die Sonne mit solcher Kraft hervorkam, daß die Helligkeit wie ein alter Kutter ächzte. Die vom dreitägigen Regen reingewaschene Luft füllte sich mit Flügelameisen. Jetzt fiel ihm ein, daß er urinieren mußte, er wollte das Bedürfnis aber zurückdrängen, bis er das Fischchen zusammengesetzt hatte. Um vier Uhr ging er in den Innenhof, als er in der Ferne Blechmusik hörte, Paukenschläge und jubelnde Kinder, und zum erstenmal seit seiner Jugend ging er der Sehnsucht auf den Leim und durchlebte von neuem den wunderbaren Nachmittag der Zigeuner, an dem sein Vater ihn mitgenommen hatte, um das Eis kennenzulernen. Santa Sofía von der Frömmigkeit ließ ihre Arbeit in der Küche liegen und lief vor die Haustür.
    »Der Zirkus!« schrie sie.
    Statt zur Kastanie zu gehen, trat Oberst Aureliano Buendía

Weitere Kostenlose Bücher