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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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wenn sie den Nachmittag in den Pflanzungen verbrachte und mit Aureliano Segundo oder mit Damen ihres nächsten Umgangs ins Kino ging, sofern Pater Antonio Isabel den Film auf der Kanzel genehmigt hatte. In diesen Augenblicken der Zerstreuung trat Memes wahrer Geschmack zutage. Ihr Glück lag am anderen Ende der Disziplin, in lärmenden Festlichkeiten, in verliebten Herzensergüssen, in ausgedehnten Geheimsitzungen mit ihren Freundinnen, wo man rauchen lernte und von Männern schwatzte, wo man sogar einmal an Hand von drei Flaschen Zuckerrohrrum über die Stränge schlug, sich auszog und die eigenen Körperteile mit denen der anderen verglich. Nie würde Meme jenen Abend vergessen, als sie Süßholzwurzel kauend ins Haus kam und, ohne daß ihre Verwirrung bemerkt wurde, sich an den Tisch setzte, an dem Fernanda und Amaranta zu Abend aßen, ohne das Wort aneinander zu richten. Sie hatte zwischen Lachen und angstvollem Weinen zwei schlimme Stunden im Schlafzimmer einer Freundin verbracht und durch diese Krise das seltene Gefühl des Muts gefunden, das ihr gefehlt hatte, um aus der Schule zu fliehen und ihrer Mutter auf die eine oder andere Weise zu verstehen zu geben, sie solle sich das Klavichord sonstwohin stecken. Am Kopfende des Tisches sitzend und eine Hühnersuppe schlürfend, die ihr wie ein Elixier der Auferstehung in den Magen rann, sah Meme zum erstenmal Fernanda und Amaranta im entlarvenden Licht der Wirklichkeit. Sie mußte sich zusammennehmen, um ihnen nicht ihre ganze Ziererei, ihre geistige Armut, ihren Größenwahn ins Gesicht zu schleudern. Seit ihren zweiten Ferien wußte sie, daß ihr Vater nur im Haus wohnte, um den Schein zu wahren, und da sie Fernanda nur zu gut kannte und es später durchgesetzt hatte, Petra Cotes kennenzulernen, mußte sie ihrem Vater recht geben. Auch wäre sie lieber die Tochter der Konkubine gewesen. Benommen vom Alkohol, wie sie war, dachte Meme entzückt an das Ärgernis, das sie ausgelöst haben würde, hätte sie sich in diesem Augenblick Luft gemacht, und ihr Schelmenstreich trug ihr so viel innere Genugtuung ein, daß sie Fernanda auffiel. »Was ist los?« fragte sie.
    »Nichts«, erwiderte Meme. »Erst jetzt merke ich, wie sehr ich euch liebe.«
    Amaranta erschrak über das Ausmaß von Haß, mit dem diese Erklärung geladen war. Fernanda hingegen war so bestürzt, daß sie verrückt zu werden glaubte, als Meme um Mitternacht mit schmerzgespaltenem Schädel erwachte und vom Gallespucken fast erstickte. Sie verschrieb ihr ein Fläschchen Rizinusöl, legte ihr Breiumschläge auf den Leib, Eisbeutel auf die Stirn und nahm ihr das Versprechen ab, die fünf Tage unbedingter Ruhe und die Diät einzuhalten, verordnet von dem neuen, überspannten französischen Arzt, der nach einer mehr als zweistündigen Untersuchung zu dem nebulösen Schluß gekommen war, sie habe ein Frauenleiden. In ihrer Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit blieb Meme nichts übrig, als auszuhalten. Ursula, schon völlig blind, aber noch immer tätig und hellwach, war die einzige, deren Diagnostik zutraf. Der geht's genau wie den Trinkern, dachte sie. Doch sie verscheuchte nicht nur diesen Gedanken, sondern warf sich überdies Leichtfertigkeit des Denkens vor. Aureliano Segundo empfand Gewissensbisse, als er Memes bemitleidenswerten Zustand sah, und gelobte insgeheim, sich in Zukunft mehr um sie zu kümmern. So entstand die fröhliche Kameradschaft zwischen Vater und Tochter, die ihn eine Zeitlang befreite aus der bitteren Einsamkeit seiner Bummeleien, die sie aus Fernandas Vormundschaft befreite, ohne daß dies eine fast unvermeidlich scheinende häusliche Krise heraufbeschwor. Nun schob Aureliano Segundo fast jede Verpflichtung auf, um mit Meme zusammen sein, um sie ins Kino oder in den Zirkus mitnehmen zu können, und widmete ihr den größten Teil seiner Muße. In der letzten Zeit hatten seine lästige unsinnige Fettleibigkeit, deretwegen er seine Schnürsenkel nicht mehr zubinden konnte, sowie die ausschweifende Befriedigung aller Arten von Gelüsten begonnen, ihn griesgrämig zu stimmen. Doch die Entdeckung seiner Tochter schenkte ihm die alte Leutseligkeit wieder, und die Freude, mit ihr zusammenzusein, brachte ihn allmählich von seinem Luderleben ab. Meme war voll erblüht. Sie war nicht schön, wie auch Amaranta nie schön gewesen war, doch dafür war sie sympathisch, ausgeglichen und gefiel auf den ersten Blick. Sie hatte einen modernen Geist, der zwar Fernandas altmodische Nüchternheit und ihr

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