Hundert Jahre Einsamkeit
gleichfalls vor die Haustür und mischte sich unter die den Zug begaffenden Neugierigen. Er sah eine in Gold gekleidete Frau auf dem Nacken eines Elefanten. Sah ein trauriges Dromedar. Sah einen als Holländerin verkleideten Bären, der mit einem Schöpflöffel und einem Kochtopf den Takt zur Musik schlug. Sah die Clowns am Schwanz des Aufzugs Grimassen schneiden und sah wiederum seiner jämmerlichen Einsamkeit ins Gesicht, als alles vorüber war und nichts blieb als der leuchtende Raum auf der Straße und die mit Flügelameisen angefüllte Luft und ein Haufen zum Abgrund der Ungewißheit drängender Gaffer. Dann ging er zur Kastanie und dachte an den Zirkus, und während er urinierte, versuchte er weiter an den Zirkus zu denken, fand aber schon keine Erinnerung mehr. Steckte den Kopf zwischen die Schultern wie ein Küken und blieb, die Stirn an den Stamm gelehnt, regungslos stehen. Bis zum nächsten Tag um elf Uhr merkte die Familie nichts, als Santa Sofía von der Frömmigkeit den Müll in den Hinterhof trug und dabei gewahrte, daß die Aasgeier herabstießen.
Memes letzte Ferien fielen mit der Trauer um Oberst Aureliano Buendías Tod zusammen. Das verschlossene Haus war kein Ort für Feste. Man sprach nur flüsternd, man aß schweigend, dreimal am Tag wurde der Rosenkranz gebetet, und sogar das Klavichordüben in der Mittagshitze klang trauervoll. Trotz ihrer geheimen Feindschaft gegen den Oberst bestimmte Fernanda, beeindruckt von der Feierlichkeit, mit der die Regierung des toten Feindes gedachte, die Strenge der Trauer. Solange die Ferien seiner Tochter andauerten, kam Aureliano Segundo wie üblich zum Schlafen nach Hause; auch mußte Fernanda etwas tun, um ihre Vorrechte einer rechtmäßigen Ehefrau wiederzugewinnen, so daß Meme im Jahr darauf ein neugeborenes Schwesterchen vorfand, das gegen den Willen der Mutter auf den Namen Amaranta Ursula getauft wurde.
Memes Ausbildung war beendet. Ihr Diplom als Klavichordkonzertistin hatte sie sich durch ihr Virtuosentum verdient, mit dem sie Volkslieder des 17. Jahrhunderts bei einer Schlußfeier spielte, die zugleich die Trauerzeit beendete. Noch mehr als ihre Kunst bewunderten die Geladenen ihre seltsame Zweiseitigkeit. Denn ihr leichtfertiger, ja etwas kindischer Charakter schien für ernsthafte Tätigkeiten denkbar ungeeignet, doch sobald sie sich ans Klavichord setzte, wurde sie ein völlig anderes Mädchen, dessen ungeahnte Reife ihr das Aussehen einer Erwachsenen verlieh. So war sie in allem. In Wahrheit besaß sie keine ausgesprochene Begabung; um jedoch ihre Mutter nicht zu erzürnen, hatte sie sich durch unbeugsame Selbstzucht die höchste Kunstfertigkeit erworben. Man hätte sie zu irgendeiner anderen Ausbildung zwingen können, und die Ergebnisse wären die gleichen gewesen.
Seit ihrer Kindheit war ihr Fernandas Strenge eine Last, zumal deren Gewohnheit, für alle anderen zu entscheiden, und sie wäre eines viel größeren Opfers als des Klavichordübens fähig gewesen, nur um sich nicht an ihrer Unduldsamkeit zu stoßen. Bei der Schlußfeier hatte sie den Eindruck, daß jenes Pergament mit gotischen Lettern und verzierten Anfangsbuchstaben sie von einer Verpflichtung freisprach, die sie weniger aus Gehorsam als aus Bequemlichkeit übernommen hatte, und sie vermutete, daß fortan nicht einmal die hartnäckige Fernanda sich für ein Instrument interessieren würde, das sogar die Nonnen als Museumsfossil betrachteten. In den ersten Jahren freilich glaubte sie sich zu täuschen, weil ihre Mutter, nachdem sie die halbe Stadt mit dem Spiel ihrer Tochter nicht nur im eigenen Salon, sondern auch an ungezählten, in Macondo veranstalteten Wohltätigkeitsabenden, Schulkonzerten und vaterländischen Feiern eingeschläfert hatte, jeden Neuankömmling einlud, in dem sie einen Bewunderer der Tugenden ihrer Tochter witterte. Erst nach Amarantas Tod, als die Familie sich wiederum in Trauer verschloß, konnte Meme ihr Klavichord zuschließen und den Schlüssel in irgendeinem Kleiderschrank verlegen, ohne daß Fernanda sich die Mühe nahm, nachzusehen, wann und durch wessen Schuld er verlegt worden war. Mit dem gleichen Gleichmut, mit dem sie sich ihrer Ausbildung unterzogen hatte, widerstand Meme jetzt dem Vorspielen. Das war der Preis ihrer Freiheit. Fernanda war so erfreut über ihre Gefügigkeit und so stolz auf die Bewunderung, die ihre Kunst hervorrief, daß sie nie etwas dagegen hatte, wenn sich das Haus mit Memes Freundinnen füllte,
Weitere Kostenlose Bücher