Hundert Jahre Einsamkeit
klagten. Das Heilverfahren war so primitiv, daß die Kinder mehrmals antraten und, statt die Pillen zu schlucken, sie nach Hause mitnahmen, um die in der Lotterie ausgelosten Nummern damit zu bezeichnen. Die Arbeiter der Gesellschaft waren in armseligen Hütten zusammengepfercht. Statt Latrinen zu bauen, brachten die Ingenieure an Weihnachten für je fünfzig Personen ein tragbares Klosett ins Lager mit und suchten durch öffentliche Vorführungen zu beweisen, wie es am längsten halte. Die hinfälligen schwarzgekleideten Rechtsanwälte, die einst Oberst Aureliano Buendía bestürmt hatten und nunmehr Bevollmächtigte der Bananengesellschaft waren, entkräfteten diese Anklagen mittels an Zauberspuk gemahnenden Machenschaften. Als die Arbeiter einstimmig eine Beschwerdeschrift abgefaßt hatten, verging viel Zeit, bis sie die Bananengesellschaft davon offiziell in Kenntnis setzen konnten. Sobald er von der Entscheidung erfuhr, ließ Señor Brown seinen prunkvollen Glaswagen an den Zug hängen und verschwand mit den bekanntesten Vertretern seiner Firma aus Macondo. Immerhin stöberten am darauffolgenden Tag mehrere Arbeiter einen von ihnen in einem Bordell auf und zwangen ihn, eine Durchschrift des Antrags zu unterschreiben, als er mit einer Frau, die sich bereit gefunden hatte, ihn in die Falle zu locken, nackt im Bett lag. Die Anwälte mit ihren Leichenbittermienen bewiesen vor dem Gericht, jener Mann habe nichts mit der Gesellschaft zu tun, und damit niemand ihre Beweisgründe anzweifle, ließen sie ihn als Betrüger einsperren. Später, als die Arbeiter Señor Brown dabei ertappten, wie er inkognito in einem Dritterklasseabteil reiste, zwangen sie ihn zur Unterschrift einer weiteren Durchschrift der Beschwerdeschrift. Am nächsten Tag erschien er vor den Richtern mit schwarzgefärbtem Haar und sprach makelloses Spanisch. Die Anwälte bewiesen, daß er nicht Señor Jack Brown sei, Generalbevollmächtigter der Bananengesellschaft, geboren in Prattville, Alabama, sondern ein harmloser Verkäufer von Heilpflanzen, geboren in Macondo und daselbst auf den Namen Dagoberto Fonseca getauft. Kurz darauf ließen die Anwälte in Anbetracht eines neuen Versuchs der Arbeiter an mehreren öffentlichen Stellen die von Konsuln und Kanzlern beglaubigte Todesanzeige von Señor Brown aushängen, die bestätigte, daß er am vergangenen neunten Juni in Chicago von einem Feuerwehrwagen überfahren worden sei. Erschöpft von dem hermeneutischen Taumel, lehnten die Arbeiter jede weitere Verhandlung mit Macondos Behörden ab und traten mit ihren Klagen vor den Obersten Gerichtshof. Dort bewiesen die Taschenspieler des Rechts, die Forderungen entbehrten jeder Gültigkeit, einfach weil die Bananengesellschaft keine Arbeiter in ihrem Dienst habe, nie welche eingestellt habe und nie welche einstellen werde, sondern sie gelegentlich und nur vorübergehend rekrutiere. Damit war der Schwindel des Virginia-Schinkens, der Wunderpillen und des Weihnachtsklosetts widerlegt, so daß das Nichtvorhandensein der Arbeiter durch einen anschließend feierlich bekanntgegebenen Richterspruch festgestellt wurde.
Der Massenstreik brach aus. Der Anbau blieb auf halbem Wege stecken, die Früchte verfaulten an den Stauden, und die einhundertundzwanzig Wagen langen Güterzüge blieben auf den Nebengleisen stehen. Die unbeschäftigten Arbeiter überschwemmten die Dörfer. Die Türkenstraße strahlte in einem tagelangen Samstag wider, und im Billardsaal des Hotels Jacob mußte ein Spieldienst von vierundzwanzig Stunden eingerichtet werden. Dort befand sich José Arcadio Segundo, als bekannt wurde, das Heer habe Befehl erhalten, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Wenn er auch kein Mensch von Vorahnungen war, so kam ihm die Nachricht wie eine Ankündigung des Todes vor, die er seit jenem fernen Morgen erwartete, als Oberst Gerineldo Márquez ihm erlaubt hatte, eine Erschießung mitzuerleben. Trotzdem brachte die böse Ahnung ihn nicht aus der Ruhe. Er stieß sein Queue wie vorgesehen und schoß nicht vorbei. Bald darauf sagten ihm Trommelwirbel, Trompetenstöße, Geschrei und Getrampel der Menschenmenge, daß nicht nur die Billardpartie, sondern auch die stumme, einsame Partie, die er seit dem Morgengrauen jener Erschießung mit sich selber spielte, vorbei war. Er trat auf die Straße hinaus und sah sie. Es waren drei Regimenter, deren vom Galeerensklavengetrommel begleiteter Marschschritt die Erde erbeben ließ. Ihr vielköpfiger Drachenatem erfüllte die
Weitere Kostenlose Bücher