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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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schmerzende Seite, und erst jetzt entdeckte er, daß er auf Toten lag. Im Wagen war kein Fleckchen frei, nur im Mittelgang. Seit der Metzelei mußten mehrere Stunden vergangen sein, weil die Leichen die Temperatur von Gips im Herbst hatten, dazu die Festigkeit von versteinertem Schaum, und die Verlader hatten offenbar genug Zeit gehabt, sie wohlgeordnet wie Bananenbüschel in die Güterwagen zu stapeln. Bemüht, dem Alptraum zu entkommen, schleppte José Arcadio Segundo sich von einem Wagen in den anderen, in der Fahrtrichtung des Zuges, und in den Lichtern, die beim Vorüberfahren an den schlummernden Dörfern zwischen den Holzplanken aufblitzten, konnte er die toten Männer sehen, die toten Frauen, die toten Kinder, die wie Abfallbananen ins Meer geworfen werden sollten. Er erkannte nur eine Frau, die Erfrischungsgetränke auf dem Platz verkauft hatte, und Oberst Gavilán, der noch immer das mit dem Schloß aus Morelia-Silber versehene aufgerollte Koppel hielt, mit dem er sich durch die panikgeschlagene Menge hindurchzuwinden versucht hatte. Als er zum ersten Wagen gelangte, sprang er ins Dunkle hinein und blieb im Graben liegen, bis der Zug vorbei war. Es war der längste, den er je gesehen hatte, mit nahezu zweihundert Güterwagen, mit je einer Lokomotive am Anfang, in der Mitte und am Ende. Er war völlig unbeleuchtet, verfügte nicht einmal über Positionslampen und glitt mit nächtlicher stummer Geschwindigkeit dahin. Auf den Wagen waren die dunklen Umrisse von Soldaten mit aufgepflanzten Maschinengewehren zu sehen.
    Nach Mitternacht kam ein Sturzregen. José Arcadio Segundo wußte nicht, wo er abgesprungen war, er wußte aber, daß er, in entgegengesetzter Zugrichtung marschierend, nach Macondo gelangen würde. Nach mehr als drei Stunden Marsch, bis auf die Knochen durchnäßt, mit fürchterlich schmerzendem Kopf, konnte er die ersten Häuser im Morgendämmerlicht unterscheiden. Von Kaffeegeruch angelockt, trat er in eine Küche, wo eine Frau mit einem Kind im Arm sich über den Herd beugte. »Morgen«, keuchte er. »Ich bin José Arcadio Segundo Buendía.«
    Er sprach seinen vollen Namen aus, Buchstaben für Buchstaben, um sich zu überzeugen, daß er am Leben war. Er tat gut daran, denn die Frau hatte gedacht, er sei ein Gespenst, als sie in der Tür die schmutzige, von der Feierlichkeit des Todes gezeichnete düstere Gestalt mit blutverschmiertem Kopf und Anzug sah. Sie kannte ihn. Brachte ihm eine Decke, in die er sich wickeln sollte, während sein Zeug am Ofen trocknete, setzte Wasser auf, damit er sich die Wunde waschen könnte, die nur eine Schürfung war, und gab ihm eine reine Windel, um sich damit den Kopf zu verbinden. Dann reichte sie ihm eine Tasse Kaffee ohne Zucker, wie die Buendías ihn dem Hörensagen nach tranken, und breitete seine Kleider nahe am Herd aus.
    José Arcadio Segundo sprach erst, als er seinen Kaffee getrunken hatte. »Es werden dreitausend sein«, murmelte er.
    »Was?« — »Die Toten«, erläuterte er. »Es werden wohl alle sein, die am Bahnhof waren.«
    Die Frau musterte ihn mit bedauerndem Blick. »Hier hat es keine Toten gegeben«, sagte sie. »Seit den Zeiten deines Onkels, des Oberst, ist in Macondo nichts passiert.« In drei Küchen, wo José Arcadio Segundo haltmachte, bevor er nach Hause kam, sagte man ihm das gleiche: »Es hat keine Toten gegeben.« Er ging über den Bahnhofsplatz und sah die Verkaufstische aufeinandergestapelt, und auch hier fand er keine Spur eines Gemetzels. Unter dem hartnäckigen Regen waren die Gassen verlassen, die Häuser verschlossen und zeigten keine Spur von Leben. Die einzige menschliche Nachricht war das Läuten zur ersten Messe. Er klopfte an Oberst Gaviláns Haustüre. Eine schwangere Frau, die er häufig gesehen hatte, schlug ihm die Tür ins Gesicht. »Er ist fort«, sagte sie erschrocken. »Ist in seine Heimat zurückgekehrt.« Der Haupteingang zum stacheldrahtumzogenen Hühnerstall war wie immer von zwei Ortspolizisten bewacht, die in ihren regenüberströmten Regenmänteln und Kautschukhelmen Steinfiguren glichen. In ihren Nebengäßchen sangen die antillanischen Neger im Chor die Samstagspsalmen. José Arcadio Segundo setzte über die Mauer des Innenhofs und betrat das Haus durch die Küche. Santa Sofía von der Frömmigkeit hob kaum die Stimme. »Daß Fernanda dich nur nicht sieht«, sagte sie. »Sie ist vor einer Weile aufgestanden.« Als erfülle sie eine selbstverständliche Pflicht, führte sie den Sohn ins Nachttopfzimmer

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