Hundert Jahre Einsamkeit
gelblichen Sprühlicht der Fenster an Mauricio Babilonia, als aus dem Büro eine bildschöne Novizin trat, die ihr Köfferchen mit ihrer dreifachen Wechselwäsche trug. Als sie auf Memes Höhe war, reichte sie ihr die Hand, ohne stehenzubleiben.
»Komm, Renata«, sagte sie.
Meme gab ihr die Hand und ließ sich mitnehmen. Als Fernanda sie das letzte Mal sah, suchte sie mit der Novizin Schritt zu halten, dann schloß sich das eiserne Gittertor des Klosters hinter ihr. Noch immer dachte sie an Mauricio Babilonia, an seinen Ölgeruch und sein Gefolge von Faltern, sie würde alle Tage ihres Lebens an ihn denken bis zu dem noch fernen frühen Herbstmorgen, an dem sie aus Altersschwäche sterben würde, unter anderem Namen und ohne je ein Wort gesprochen zu haben, in einem düsteren Hospital von Krakau.
Fernanda kehrte in einem von Militärpolizei bewachten Zug nach Macondo zurück. Während der Fahrt fiel ihr die Spannung der Reisenden auf, die vielen Soldaten in den an der Eisenbahnlinie gelegenen Dörfern und die in der Luft liegende Gewißheit, daß etwas Schlimmes geschehen müsse, doch erst bei ihrer Ankunft in Macondo erzählte man ihr, José Arcadio Segundo wiegle die Arbeiter der Bananengesellschaft zum Streik auf. »Das hat uns noch gefehlt«, sagte sich Fernanda. »Ein Anarchist in der Familie.« Der Streik brach zwei Wochen später aus, zeigte jedoch nicht die befürchteten dramatischen Folgen. Die Arbeiter verlangten, sonntags nicht zum Schneiden und Verladen der Bananen gezwungen zu werden, und die Forderung klang so gerecht, daß sogar Pater Antonio Isabel sich für sie einsetzte, weil er sie in Übereinstimmung mit Gottes Gesetz sah. Der Triumph der Aktion sowie anderer, die in den kommenden Monaten eingeleitet wurden, holte den farblosen José Arcadio Segundo, der der allgemeinen Auffassung zufolge bisher nur dazu gedient hatte, das Dorf mit französischen Huren zu füllen, aus seiner Namenlosigkeit. Genauso impulsiv und entschlossen wie er seine Kampfhähne versteigert hatte, um eine sinnlose Schiffahrtsgesellschaft zu gründen, hatte er den Posten des Vorarbeiters der Bananengesellschaft zur Verfügung gestellt, um die Partei der Arbeiter zu ergreifen. Sehr bald sprach man von ihm als einem Agenten internationaler Verschwörung gegen die öffentliche Ordnung. Eines Nachts im Verlauf einer von düsteren Gerüchten verdunkelten Woche entkam er wunderbarerweise vier Revolverschüssen, die ein Unbekannter auf ihn abfeuerte, als er eine Geheimsitzung verließ. Die Atmosphäre der kommenden Monate war so beklemmend, daß sogar Ursula sie in ihrem Winkel der Finsternis merkte und wiederum die gefahrvollen Zeiten zu durchleben glaubte, in denen ihr Sohn Aureliano die homöopathischen Pastillen des Umsturzes in der Tasche getragen hatte. Daher suchte sie mit José Arcadio Segundo zu sprechen, um ihn von diesem Präzedenzfall zu unterrichten, doch Aureliano Segundo teilte ihr mit, seit der Nacht des Attentats sei sein Aufenthalt unbekannt.
»Genau wie Aureliano«, rief Ursula aus. »Es ist, als drehe sich die Welt im Kreise.«
Fernanda blieb unberührt von der Unsicherheit jener Tage. Seit der heftigen Auseinandersetzung mit ihrem Mann darüber, daß sie Memes Schicksal ohne seine Zustimmung besiegelt habe, unterhielt sie keine Verbindung mehr zur Außenwelt. Aureliano Segundo war entschlossen, seine Tochter notfalls mit Hilfe der Polizei zu befreien, doch Fernanda zeigte ihm Dokumente, aus denen hervorging, daß sie aus eigenem Antrieb ins Kloster gegangen war. Tatsächlich hatte Meme sie unterzeichnet, als sie bereits hinter dem eisernen Gittertor war, und sie hatte es mit der gleichen Verachtung getan, mit der sie sich hatte hinbringen lassen. Im Grunde glaubte Aureliano Segundo nicht an die Rechtmäßigkeit der Beweisstücke, wie er nie daran geglaubt hatte, daß Mauricio Babilonia sich als Hühnerdieb in den Innenhof eingeschlichen hatte, doch beide Verfahren dienten ihm zur Beruhigung seines Gewissens, so daß er nun ohne Gewissensbisse in den Schatten von Petra Cotes zurückkehren konnte, wo er seine lärmenden Lustbarkeiten und hemmungslosen Fressereien wiederaufnahm. Fern von der Unruhe des Dorfs, taub gegen die fürchterlichen Voraussagen Ursulas, zog Fernanda die letzten Schrauben ihres bereits feststehenden Planes an. So schrieb sie einen ausführlichen Brief an ihren Sohn José Arcadio, der die niederen Weihen empfangen sollte, und teilte ihm mit, seine Schwester Renata sei an Gelbfieber im
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