Hundert Jahre Einsamkeit
Frieden des Herrn verschieden. Dann übergab sie Amaranta Ursula der Fürsorge Santa Sofías von der Frömmigkeit und widmete sich fortan dem durch die Widerwärtigkeiten mit Meme ins Stocken geratenen Briefwechsel mit den unsichtbaren Ärzten. Als erstes setzte sie einen endgültigen Termin für den aufgeschobenen telepathischen Eingriff fest. Doch die unsichtbaren Ärzte erwiderten ihr, sie hielten es nicht für ratsam, solange der Zustand sozialer Unruhe in Macondo währe. Sie war jedoch so in Eile und dabei so wenig im Bilde, daß sie ihnen in einem neuen Brief erklärte, es bestehe kein Zustand der Unruhe, all das sei auf die Verrücktheiten ihres Schwagers zurückzuführen, der in diesen Tagen am Gewerkschaftsfieber leide, wie er zu anderer Zeit am Fieber der Hahnenkämpfe und der Schiffahrt gelitten habe. Sie konnten sich auch nicht bis zu jenem heißen Mittwoch einigen, als eine uralte Nonne an die Haustür klopfte, die einen Korb am Arm trug. Als Santa Sofía von der Frömmigkeit ihr öffnete, dachte sie, es sei ein Geschenk, und wollte ihr den mit einer herrlichen Spitzendecke bedeckten Korb abnehmen. Doch die Nonne hinderte sie daran, weil sie Anweisungen hatte, ihn Doña Fernanda del Carpio de Buendía höchstpersönlich und überdies höchst privat zu übergeben. Es war Memes Sohn. Fernandas alter Beichtvater erklärte ihr in einem Brief, er sei vor zwei Monaten geboren worden, man habe sich erlaubt, ihn auf den Namen Aureliano wie sein Großvater zu taufen, weil die Mutter nicht die Lippen geöffnet habe, um ihren Willen kundzutun. Fernanda lehnte sich innerlich gegen den bösen Scherz des Schicksals auf, besaß jedoch die Kraft, die Nonne nichts merken zu lassen.
»Wir werden sagen, wir haben ihn in dem schwimmenden Korb gefunden«, lächelte sie.
»Niemand wird es glauben«, sagte die Nonne.
»Wenn man es in der Heiligen Schrift geglaubt hat«, erwiderte Fernanda, »wird man es auch mir glauben.«
Die Nonne aß im Haus zu Mittag, während sie auf die Abfahrt des Zuges wartete, und erwähnte auftragsgemäß das Kind mit keinem Wort mehr, Fernanda indessen sah in ihr einen unerwünschten Zeugen ihrer Schande und bedauerte, daß der mittelalterliche Brauch, den Überbringer böser Botschaften zu erwürgen, nicht mehr geübt wurde. Nun beschloß sie, das Geschöpf gleich nach der Abreise der Nonne in der Zisterne zu ertränken, aber dann fehlte ihr doch der Mut dazu, und sie zog vor, sich in Geduld zu fassen, bis Gott in seiner unendlichen Güte sie von dieser Last befreie.
Der neue Aureliano war gerade ein Jahr alt, als die öffentliche Spannung ohne Vorankündigung zum Ausbruch kam. José Arcadio Segundo und andere Gewerkschaftsführer, die bis dahin im Untergrund verharrt hatten, tauchten mit einemmal an einem Wochenende auf und leiteten Kundgebungen in den Dörfern der Bananengebiete ein. Die Polizei beschränkte sich darauf, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Doch in der Nacht zum Montag wurden die Rädelsführer aus ihren Häusern gezerrt und mit fünfkiloschweren Eisen an den Füßen in den Kerker der Provinzhauptstadt geschleppt. Unter ihnen befanden sich José Arcadio Segundo und Lorenzo Gavilán, ein nach Macondo verbannter Oberst der mexikanischen Revolution, der angeblich Zeuge des Heldentums seines Helfershelfers Artemio Cruz gewesen war. Immerhin waren sie vor Ablauf dreier Monate wieder auf freiem Fuß, weil die Regierung und die Bananengesellschaft sich nicht darüber einigen konnten, wer für die Ernährung der Inhaftierten aufzukommen habe. Diesmal fußte der Protest der Arbeiter auf der ungesunden Unterkunft, den Gaunereien bei der ärztlichen Betreuung und den niederträchtigen Arbeitsbedingungen. Überdies behaupteten sie, sie würden nicht mit Gold bezahlt, sondern mit Gutscheinen, die nur zum Einkauf von Virginia-Schinken in den Faktoreien der Gesellschaft berechtigten. José Arcadio Segundo wurde eingesperrt, weil er preisgegeben hatte, das System der Gutscheine diene der Gesellschaft nur als Hilfsmittel, ihre Fruchtschiffe zu finanzieren, die ohne Ladung für die Faktoreien von New Orleans hätten leer zu den Bananenverschiffungshäfen zurückfahren müssen. Die anderen Anklagen waren stadtbekannt. So untersuchten die Ärzte der Gesellschaft nicht die Kranken, sondern ließen sie nur in Indio-Reihe vor den Beratungsstellen antreten, und eine Krankenschwester legte ihnen eine türkisfarbene Pille auf die Zunge, gleich ob sie über Sumpffieber, Gonorrhöe oder Stuhlverstopfung
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